Freizeit

Im Kampf mit dem (Corona-) Speck

Österreichs Kinder sind ziemlich übergewichtig. Nach dem Lockdown der Schulen im Frühjahr ohne regelmäßigen Sport und wegen der oft nachlässigen Ernährungsgewohnheiten daheim hat sich das Problem über den Sommer vermutlich noch deutlich erschwert.

Die rund 130 beobachteten Kinder hatten während der Schulschließungen im Frühjahr bis Juni im Schnitt an die zwei Kilo zugenommen – so das Ergebnis einer Projektstudie in einer Volksschule in Wien-Meidling in diesem Frühjahr. Wie viel Übergewicht die heimischen Kinder und Jugendlichen in Österreich in der „Corona-Zeit“ tatsächlich angelegt haben (und wie viele Kilos zu viel sie generell haben), weiß allerdings niemand genau: Es gibt weder dazu, noch zur generellen Gesundheit, noch zur sportlichen Fitness der rund 700.000 Pflichtschülerinnen und -schüler im Land valide Aufzeichnungen.

Kurt Widhalm, Leiter des ÖAIE (Österreichisches Akademisches Institut für Ernährungsmedizin), ist wenig zuversichtlich, dass sich am offensichtlichen – wenn auch nicht genau gemessenen – stetig wachsenden Übergewicht bei Kindern bald etwas ändert. Das ÖAIE führt die eingangs genannte Studie in Wien durch, „EDDY–Young“ (Effect of sports and diet trainings to prevent obesity and secondary diseases and to influence young children’s lifestyle) heißt das seit fünf Jahren laufende Projekt. Die vom Österreichischen Herzfonds initiierte Projektstudie wird auch vom Bundesministerium für Gesundheit und vom Wiener Stadtschulrat ermöglicht.

Als Schule für das Projekt wurde eine sogenannte „Brennpunktschule“ ausgewählt, wo rund 80 Prozent der Kinder Migrationshintergrund haben. Laut jüngster Auswertungen sind an dieser konkreten Schule weit mehr als ein Drittel der 9- bis 11-Jährigen übergewichtig, einige sogar schon in diesem jungen Alter adipös. Rückschlüsse auf den sportlichen und gesundheitlichen Zustand der Schüler im ganzen Land könne man allerdings nur bedingt ziehen.

„Ineffizientes Schularztsystem“

Die schulärztliche Untersuchung steht in diesem jungen Schuljahr zwar noch überall aus. Dass die Corona-Kilos über den Sommer geschrumpft sind, ist kaum zu erwarten, in der „EDDY“-Schule wie auch im Rest des Landes. Allerdings: So genau weiß man das nicht. Denn bislang gibt es keinerlei alle Schüler im Bundesgebiet erfassenden „Status-Quo-Bericht“ über Größe und Gewicht, ebenso wenig über Erkrankungen wie etwa Asthma oder Diabetes.

Die Ergebnisse der jährlichen Untersuchungen der Schülerinnen und Schüler werden schlichtweg nicht gesammelt. Daher sieht Ernährungswissenschafter Widhalm die Schulärzte in einer Schlüsselrolle beim Schließen dieser Datenlücke und insofern auch bei der Bekämpfung des Problems der Übergewichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Zuletzt im Herbst des Vorjahres hatte der Gemeindebund (die Gemeinden finanzieren das Schularztsystem in den Pflichtschulen) überhaupt eine Abschaffung des derzeitigen Schularztsystems aufs Tapet gebracht. Mit Kosten von jährlich 30 bis 40 Mio. Euro für Länder und Gemeinden sei es nicht nur ineffizient, sondern auch teuer. Stattdessen sollte der Mutter-Kind-Pass bis zur Volljährigkeit ausgeweitet werden, die Schüler sollten stattdessen regelmäßig von niedergelassenen Ärzten gecheckt werden. Dort gäbe es auch Zeit zur Gesundheitsberatung.

Zumindest bei der viel strapazierten „Täglichen Turnstunde“ dürfte sich etwas bewegen, wenn auch im Schneckentempo. Im Vorjahr beschloss der Nationalrat die Umsetzung einer „täglichen Bewegungseinheit für alle Kinder und Jugendlichen im Pflichtschulalter“ bis zum Jahr 2024: Eine Stunde Bewegung pro Tag schafft aktuelle gerade ein Viertel der Kinder im Land. Schulprogramme müssten intensive körperliche Aktivität wie auch Ernährungserziehung umfassen, so Kurt Widhalm.

Er ist seit 1977 Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde, seit 1980 habilitiert, wurde 1986 Univ.-Prof., ist Präsident des österreichischen akademischen Institutes für Ernährungsmedizin sowie von 2003 bis 2011 Professor für Ernährungsmedizin und Leiter der Abteilung für Ernährungsmedizin an der MedUni Wien. Im folgenden Interview mit „familiii“ nimmt Widhalm auch die Schulärzte in die Pflicht und fordert das Bildungsminsterium auf, der Misere über den Fitness- und Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen ein Ende zu setzen.

Wie kam es dazu, dass unter der Leitung des ÖAIE eine Volksschule begleitet wird, was Gewicht, Ernährung und Sport betrifft?
Widhalm: Das Projekt EDDy entstand aus einem seit Jahren bestehenden Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO an die Länder, bei Kindern wirksame und evidenzbasierte
Maßnahmen zur Eindämmung des Übergewichts zu setzen. Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist ein großes medizinisches und psychologisches Problem; Folgen sind Diabetes, Skeletterkrankungen, Herzkreislauferkrankungen, Diskriminierung etc. Das Ziel des Projektes ist, den Anstieg, die Prävalenz und das Ausmaß des Übergewichts unter Schulkindern einzudämmen. Es gänzlich zu verhindern, das maßen wir uns nicht an.

Was wird dabei konkret angeboten?
Widhalm: Es gibt Lehreinheiten zu gesunder Ernährung, also über die gesunde Jause, zu Grundlagen der Ernährungsphysiologie für Kinder. Zudem ist das Institut für Sportwissenschaften der Uni Wien beteiligt, bietet Trainings an, um die körperliche Performance der Kinder zu verbessern. Generell sind die Kinder körperlich oft kaum leistungsfähig, viele können keine Purzelbäume schlagen, sind beim Ballspielen überfordert. Das Präventionsprogramm läuft seit über 5 Jahren an mehreren Schulen; es ist viel mehr, als Plakate in die Klassen zu hängen, die dazu auffordern, mehr Radieschen oder Äpfel zu essen. Solche Aktionen gibt es hunderte, die nie evaluiert wurden und deren Effekt völlig unbekannt ist. Sie könnten auch die Entstehung von Übergewichtigkeit fördern!

Ist die Schule, an der das Projekt läuft, repräsentativ?
Widhalm: Die Schule, in der wir das Programm EDDY durchführen, wurde uns zugewiesen; die Auswahl erfolgte per Zufall, es wurde eine Volkschule im 12. Bezirk in Wien. Es ist eine sogenannte Brennpunktschule mit rund 80 Prozent Kindern mit migrantischem Hintergrund, mit rund 40 Prozent übergewichtigen und adipösen Kindern. Wir vergleichen eine 3. mit einer 4. Klasse, eine Interventionsgruppe mit einer Kontrollgruppe. Die Fragen sind dort: Können wir das Ausmaß des Übergewichts eindämmen, können wir die körperliche Performance erhöhen?

Was hat sich beim Projekt mit dem Corona-Lockdown geändert?
Widhalm: Ab Mitte März mussten wir unsere Aktivitäten stark einschränken, weil die Schüler zuhause blieben und wir viele nicht erreichen konnten. Die Interventionsgruppe wurde online mit konkreten Empfehlungen versorgt. Die Zunahme des Fettgewebes war in der Interventionsgruppe geringer als in der Kontrollgruppe, wir haben herausgefunden, dass die Kinder in der Lockdown-Zeit zwischen 1,6 und 1,9 Kilo mehr zugenommen haben, als die Gleichaltrigen im Schuljahr zuvor. Allerdings war die Zunahme der adipösen Kinder auch in der Interventionsgruppe höher, doch wurden die Übergewichtigen weniger. Ein Schluss, den man daraus ziehen kann: adipöse Kinder sind mit solchen Programmen nicht fokussierbar, diese brauchen eigene und spezielle Programme.

Wie geht es im neuen Schuljahr mit dem Projekt weiter?
Widhalm: Wir hoffen, dass wir das Programm weiterführen können, unter eingeschränkten Bedingungen. Mehr Turnen wird nicht möglich sein, die Turnsäle sind oft relativ klein. Die Organisatoren des Schulbetriebs müssen sich generell Gedanken machen, wie mehr Sport möglich ist. Etwa durch mehr Kooperationen mit Vereinen, oder indem, wie in den USA, Sport immer am Nachmittag stattfindet. Mir ist aber klar, dass es an Turnsälen mangelt, dass Lehrer nicht zur Verfügung stehen und dass es auch rechtliche Fragen gibt.

 

„Ein Elfjähriger mit über 100 Kilo wurde vom Turnen befreit, statt zu einer Behandlung geschickt zu werden.“

Prof. Kurt Widhalm
Kinderarzt und Ernährungsmediziner

Die Forderung nach einer täglichen Turnstunde taucht immer wieder auf. Halten Sie deren Einführung für möglich und sinnvoll?
Widhalm: Zum ersten Mal haben wir die Forderung im Jahr 2005 an die Regierung formuliert, anlässlich des Kongresses Childhood Obesity in Wien. Die damalige Ministerin Rauch-Kallat hat dann diese Forderung mitgetragen. Passiert ist bezüglich täglicher Turnstunde bis heute leider nichts. Wobei die tägliche Stunde vielleicht gar nicht das Beste ist, denn Untersuchungen zeigen, dass bei einer Stunde für jedes Kind nur rund 14 Minuten Nettozeit an sportlicher Betätigung übrigbleiben. Der Rest wird für den Weg zum Turnsaal, zum Umziehen, zum Aufwärmen, zum Duschen und so weiter verbraucht. Daher wären Doppelstunden viel besser, am besten dreimal in der Woche.

Wie übergewichtig sind Österreichs Schüler, generell und nach dem Lockdown?
Widhalm: Es gibt keinerlei belastbare Zahlen dazu. Die aktuellsten Daten zum Übergewicht unter den Schülern wurden vor drei Jahren in Österreich von der WHO stichprobenartig erhoben, demnach haben in Österreich unter den 7- bis 11-Jährigen 30 Prozent der Kinder Übergewicht, bei den Mädchen allein sind es mit 22 Prozent etwas weniger.

Wieso gibt es keine aktuellen Zahlen zum Übergewicht? Die Pflichtschüler werden doch von Schulärzten jedes Jahr gemessen, gewogen und darüber hinaus untersucht.
Widhalm: Für die Schulärzte steht einfach kein System zur Verfügung, wo sie die Daten eingeben könnten, wir fordern das schon seit 20 Jahren. Es ist eine Schande, dass überhaupt keine Daten aus den Schulen zur Verfügung stehen. Österreich ist das einzige Land in der EU, das angestellte Schulärzte direkt vor Ort in den Schulen hat und dennoch ist es nicht möglich, Daten zu sammeln, nicht zu Übergewicht, Asthma, Diabetes, Behinderungen. Es gibt null Reports. Jede kleine Autowerkstatt hat mehr Daten über die Reparaturanfälligkeit von allen Automodellen als das Schulsystem an Gesundheitsdaten von Schülern. Der Gemeindebund hat ja schon öfter moniert, dass das Schularztsystem in dieser Weise zu hinterfragen ist.

Müssten also die Schulärzte initiativ werden?
Widhalm: Ja, aber zuvor müsste das Bildungsministerium handeln, Systeme und Programme zur Verfügung stellen. Dass die Schulärzte die Daten aus den Reihenuntersuchungen im PC in ein System eingeben, kann ja nicht schwierig sein. Aber dieses System gibt es einfach nicht. Viele Kinder würden eine sofortige Behandlung brauchen, ich kenne einen Fall, wo ein 11-Jähriger über 100 Kilo gewogen hat, aber die Schulärztin hat nicht reagiert, sondern den Buben nur vom Turnunterricht befreit. Das ist natürlich ein harter Befund, aber die Schulärzte müssten mehr Initiative zeigen.

Gesetzt dem Fall, dass es wegen der Corona-Pandemie wieder zu Einschränkungen des Schulbetriebs und des Schulsports kommt, welche Fehler wurden im ersten „Lockdown“ der Schulen gemacht, die man nicht wiederholen sollte?
Widhalm: Für die Fehler kann man niemanden konkret verantwortlich machen, diese Situation kam ja fast wie aus heiterem Himmel und sie war ja völlig neu. Auch wusste man damals weniger über die Übertragungswege des Virus bei Kindern als heute. Man darf zumindest keineswegs die Eltern aus der Verantwortung nehmen, sie sollten so gut wie möglich dafür sorgen, dass sich die Kinder in einer solchen Situation möglichst viel bewegen. Ob die Kinder in der Corona-Zeit wegen des eingeschränkten Sports oder wegen der größeren Verlockung zu ungesunder Ernährung zuhause so sehr an Gewicht zulegten, ist nicht klar. Sehr wahrscheinlich ist, dass beide Faktoren dafür verantwortlich sind.

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