Erziehung

„Jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht“

MMag. (FH) Nicola Tutsch, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in freier Praxis. Sie lebt mit ihren drei Kindern am Rande von Wien.

Eltern leben in unterschiedlichen Vermögensverhältnissen. Auf welche Weise wirkt sich das auch auf den Alltag ihrer Kinder aus?
Um ein Kind großzuziehen, braucht es vor allem Liebe, Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen. Aber natürlich sind Kinder teuer. Kleidung, Sportvereine, Kinderbetreuung und diverse andere Dinge kosten sehr viel Geld. 300.000 Kinder in Österreich gelten als armutsgefährdet, das ist jedes fünfte Kind. Kinder, die in Armut aufwachsen, werden durch die ungenügenden Wohnverhältnisse leichter körperlich krank und sind auch viel öfter psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen ausgesetzt. Sie sind auch häufig übergewichtig, weil einfach das Geld für gesunde Ernährung fehlt und viel öfter zu Fertigprodukten gegriffen wird.

Ärmere Kinder genieren sich für ihr Zuhause.

Nicola Tutsch, www.familien- psychotherapie.at

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Was empfinden Kinder, deren Eltern über wenig Geld verfügen?
Oft schämen sich gar nicht die Kinder aus prekären finanziellen Verhältnissen zuerst, sondern die Eltern. So erfinden sie Ausreden, wieso sie ihre Kinder nicht auf Schullandwoche schicken können, anstatt die Hilfe eines Elternvereins in Anspruch zu nehmen. Denn glücklicherweise ist es bereits an fast allen Schulen so, dass Elternvereine dort einspringen, wo sich die einzelne Familie nicht mehr in der Lage fühlt, alles finanziell zu bewältigen. Aber Hilfe anzunehmen ist gar nicht so leicht. Der Selbstwert leidet massiv, wenn man weiß, man schafft es nicht allein. Und da beginnt auch der Selbstwert eines Kindes zu leiden. Denn das Kind spürt den Stress, dem die Eltern ausgesetzt sind, wenn es um Ausgaben geht. Sei es das neueste Smartphone, die Mitgliedschaft im örtlichen Tennisclub oder der wöchentliche Reittermin. Armut schränkt das Leben ein und damit auch die Unbeschwertheit und Sicherheit, die in der Kindheit und Jugend so wichtig sein sollte.

Manche Kinder schämen sich und tun alles, um die wahren Gegebenheiten zu vertuschen. Zu welchen Verhaltensweisen kann es da kommen?
Manche Kinder denken sich eine Geschichte aus, nur um ihren wahren Hintergrund zu verheimlichen. Die häufigste Folge ist aber mit Sicherheit der soziale Rückzug. Soziale Integration ist eines der Kernthemen, wenn es um den Selbstwert und damit auch das Schamgefühl bezüglich der finanziellen Verhältnisse geht. Wenn man nach der Schule nicht mit den Freunden ins Kino gehen kann, ist man schnell der Außenseiter und es fehlen wichtige
Erfahrungen.

Wie reagieren Eltern am besten auf die Scham ihres Kindes?
Eltern sollten die Freunde der Kinder trotz wenig Geld in den Familienalltag integrieren. Sei es bei Treffen in der Natur, in Parks oder bei Unternehmungen, die wenig bis gar kein Geld kosten – zum Beispiel eine Schatzsuche im Wald, ein gemeinsamer Spaziergang oder Kinderevents der örtlichen Pfarre. Es ist wichtig, dass Eltern den Kindern helfen, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Das ist der erste Schritt zu einem schamfreien Miteinander. Und wahre Freunde haben Verständnis für unterschiedliche finanzielle Situationen. In Österreich gibt es viele Gratisangebote für Kinder in den Bereichen Bildung und Kultur. Eltern sollten sich die Zeit nehmen, diese zu nutzen. Denn oftmals wollen Kinder aus ärmeren Familien niemanden in ihr Zuhause bringen, weil sie sich dafür schämen. Es ist auch wichtig, dass die Eltern den Kindern die finanzielle Situation altersgerecht erklären. Kinder dürfen auf keinen Fall das Gefühl bekommen, dadurch weniger wert zu sein. Wenn Eltern ihre Lage erklären, können sich die Kinder besser orientieren. Und Orientierung gibt wiederum die so wichtige Sicherheit.

Kann es sinnvoll sein, therapeutische Unterstützung zu suchen?
Wenn ein Kind massiv unter diesem Thema leidet, gibt es auch einige Institute, die kostenlose Angebote für therapeutische Hilfe anbieten.

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