Coronavirus

Kinder dürfen jetzt nicht durchs Raster fallen

Wie geht es den Mädchen und Jungen ein Jahr nach Beginn der Pandemie? Und was brauchen Kinder, um die Krise auch langfristig gut zu überstehen? Wir haben Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. med. Jörg Fegert gefragt.

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Die Pandemie bedeutet für Kinder und ihre Familien einen andauernden Stresstest. Freunde treffen, sich mit Gleichaltrigen zum Sport verabreden, ein geregelter Schul- oder Kita-Alltag – all dies ist nicht mehr selbstverständlich. Im Gespräch erklärt Psychiater Prof. Dr. med. Jörg Fegert, was Kinder jetzt benötigen, um die Folgen der Pandemie zu verarbeiten.

Herr Fegert, die Covid-19-Pandemie dauert nun schon länger als ein Jahr. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass sich Gewalt gegen Kinder verschärft hat. Was ist bereits jetzt absehbar?

Es gibt bisher keine repräsentativen Erhebungen, die eine Zunahme von Gewalt in Familien belegen. Daten aus größeren, nicht repräsentativen Online-Befragungen weisen jedoch darauf hin, dass die psychische Belastung bei Kindern deutlich angestiegen ist. Zeigten vor der Pandemie rund ein Fünftel der Kinder psychische Auffälligkeiten, sind es heute etwa ein Drittel. Noch lässt sich aber nicht sagen, wie viel dabei auf die Gesamtsituation – beispielsweise auf Schulschließungen, Einschränkungen des öffentlichen Lebens und familiären Stress – zurückzuführen ist und wie viel tatsächlich z.B. auf emotionale Misshandlung zurückgeht.

Sie leiten die medizinische Kinderschutzhotline, ein Beratungsangebot für medizinisches Fachpersonal sowie Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und Familiengerichte. Welche Entwicklungen beobachten Sie?

Die Zahl der Anrufe ist im ersten Shutdown auf 70 Prozent des durchschnittlichen Niveaus zurückgegangen. Weil medizinische Leistungen weniger wahrgenommen wurden und Bezugspersonen wie Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Schutzfunktion quasi weggefallen sind, gab es auch weniger Hinweise auf Gewalt gegen Kinder – und somit weniger Anrufe bei unserer Hotline. Beobachten konnten wir zudem eine Profilverschiebung: Körperliche Misshandlung wurde weiterhin gesehen. Sexueller Missbrauch und emotionale Gewalt hingegen wurden weniger häufig wahrgenommen bzw. gemeldet.
Nach dem ersten Lockdown sind die Anrufe dann auf über 130 Prozent des Durchschnitts stark angestiegen und es kam zu einem Rebound-Effekt. Die Kinder konnten sich in der Schule und in ihrem sozialen Umfeld wieder jemandem anvertrauen; dadurch haben auch wieder mehr Erwachsene im medizinischen System und der Jugendhilfe Rat gesucht.
Im zweiten Lockdown war das Unterstützungssystem besser vorbereitet und viele Hilfsangebote wurden fortgeführt, beispielsweise psychotherapeutische Angebote, dennoch kam es wieder zu einem gewissen Rückgang.
Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Kinder Zugang zur Schule, zur Kinderbetreuung und zu Hilfen sowie zu Schulkamerad*innen und aufmerksamen Erwachsenen haben, damit sie in ihrer Not gesehen werden und sich jemandem anvertrauen können.

Welche Kinder und Jugendlichen sind besonders betroffen?

Wir wissen aus nicht repräsentativen Befragungen, dass Familien, in denen es schon vor der Pandemie Stress und Probleme gab, besonders unter der Corona-Pandemie leiden. Manche Familien kommen mit den Veränderungen besser zurecht als andere. Deshalb sollten wir auch nicht pauschal von einer „verlorenen Generation“ sprechen. Kinder
jedoch, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten hatten und deren Zugang zu Hilfsangeboten und Anlaufstellen nun eingeschränkt wurde, befinden sich teilweise in prekären Situationen. Daher können wir jetzt nicht mit dem üblichen Tempo reagieren und darauf warten, bis die Probleme irgendwo aufschlagen oder wir merken, dass Kinder durchs Raster fallen. Wir müssen jetzt dringend die Weichen für den Kinderschutz und die psychosoziale Unterstützung von Kindern stellen. Genauso wie Bildungs-Check-Ups brauchen wir meines Erachtens daher vor allem auch emotionale Check-Ups. Wo stehen die Kinder psychosozial? Wie können wir die Kinder bestmöglich unterstützen, wenn das Leben langsam wieder zur Normalität zurückkehrt, auch langfristig? Das sind die zentralen Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.

Was macht die Pandemie mit der Seele der Kinder und Jugendlichen?

Die Pandemie ist eine Herausforderung für jede Familie. Kinder hatten deutlich weniger Kontakt zu Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen. Diejenigen, die in ihrer Peergruppe gut vernetzt sind und auch technische und digitale Möglichkeiten haben, schaffen es recht gut, ihre Beziehungen aufrecht zu erhalten. Für Kinder, die schon vorher mehr allein waren, die z.B. gemobbt wurden, die erst im Kindergarten oder in der Schule integriert wurden und noch nicht wirklich Fuß gefasst haben, sind die Veränderungen schwieriger. Auch dort, wo Eltern überfordert sind, wo Angsterkrankungen, Depressionen und Suchterkrankungen angestiegen sind, wo Eltern große Zukunftsängste haben, sind schwere Belastungen zu befürchten. Umso wichtiger ist es, dass wir hier systematisch nachfassen und innovative Angebote, die Kinder wirklich erreichen, stärker berücksichtigen, wie beispielsweise betreute digitale Angebote.

Im Corona-Lockdown besteht noch mehr als sonst die Gefahr, dass Gewalt gegen Kinder unentdeckt bleibt. Wie machen sich insbesondere psychische Belastungen bemerkbar?

Das ist so unterschiedlich, wie wir alle unterschiedlich sind. Manche Kinder reagieren auf Belastungen eher mit Aggressionen oder Reizbarkeit, beispielsweise die Kinder, die eine Veranlagung haben, motorisch aktiver zu sein und momentan nur sehr eingeschränkt Sport in der Gruppe machen können. Insgesamt zeigt sich, dass die meisten Kinder eine große Resilienz haben und trotz der ungewohnten Rahmenbedingungen gut zurechtkommen. Für Kinder, die jedoch bereits vorher schon eine Angstproblematik hatten, die soziale Kontaktschwierigkeiten hatten oder ausgeschlossen waren, ist es eine besonders schwere Zeit. Auch gibt es Hinweise darauf, dass Essstörungen zunehmen.

Was können wir als Eltern, als Erwachsene tun, um Kinder jetzt bestmöglich zu unterstützen?

Es ist wichtig, mit Kindern auch über unsere eigenen Belastungen zu sprechen, denn es ist nicht hilfreich, wenn Kinder merken, dass ihre Eltern immer gestresster sind, sie aber nicht wissen, woran das liegt. Kinder kommen sehr schnell in eine Rollenumkehr und möchten ihre Eltern aufmuntern, wenn sie merken, dass es ihnen nicht gut geht. Wenn Eltern mit offenen Karten spielen, ist es leichter, sich gegenseitig Mut zu machen. Daher ist es gut, sowohl Sorgen als auch Dinge, die positiv laufen, anzusprechen. Das Gleiche gilt für Online-Gefahren: Kinder verbringen in der Pandemie viel mehr Zeit vor dem Bildschirm, gleichzeitig fällt die Präventionsarbeit in der Schule weg. Wenn Kinder wissen, dass sie zuhause auf ein offenes Ohr stoßen, wenn sie in eine Situation geraten, die ihnen seltsam vorkommt oder die sie beschäftigt, erzählen sie ihren Eltern eher davon. So können dann gemeinsame Lösungen gefunden werden.

Spulen wir vor ins Jahr 2030: Welche Veränderungen möchten Sie bis dahin sehen?

Bis 2030 muss jedes Kind frei von Gewalt aufwachsen können, dazu hat sich die Weltgemeinschaft im Rahmen der Agenda 2030 klar verpflichtet. Angesichts der Pandemie sollten wir uns umso mehr fragen: Können wir so weitermachen wie bisher? Was muss sich verändern, um Kindern eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen? Und wie können wir dafür sorgen, dass kein Kind zurückbleibt? Um Fortschritte zu erzielen, müssen wir unbedingt die soziale Teilhabe von Kindern fördern und dafür sorgen, dass ihre Rechte im Mittelpunkt stehen. In Bezug auf Deutschland gehört dazu auch die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung. Die Pandemie war ein tiefer Einschnitt, aber sie bietet auch die Chance für einen Neustart. Die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen sind eine wichtige Agenda für diesen Neustart.

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Prof. Dr. med. Jörg Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm.

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