Erziehung

„Wird ein Kind ständig von außen stimuliert, verlernt es, selbst etwas zu gestalten“ – Interview

Der renommierte Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther über die Wiederentdeckung der Muße und das Kreativitätspotenzal, das die lange Weile in sich birgt.

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Mein Eindruck ist der, dass Kinder sich heute nicht mehr so richtig langweilen können. Ständig findet irgendeine Beschäftigung statt. Wie ist Ihre Wahrnehmung?
Gerald Hüther: Nun, es ist immer schwierig, hier allgemeine Aussagen zu treffen. Es zeigt sich aber schon, dass Kinder und Jugendliche heute generell kaum noch Zeit finden, sich mit nichts zu beschäftigen. Weil es zum einen sehr viel Förderung bzw. Programm zusätzlich zu Kindergarten und Schule gibt. Und andererseits ist die Verführung der digitalen Medien enorm: Man braucht sich nur umzusehen, mit welch nahezu magischer Kraft es Kinder hin zu den Smartphones treibt.

Langeweile wird in unserer Gesellschaft oft mit Faulheit assoziiert. Was haben wir denn gegen das Nichtstun?
Hüther: Wenige wissen, dass sich das Wort Schule vom altgriechischen „Scholé“ herleitet, was übersetzt so viel heißt wie Muße. Die alten Griechen haben schon verstanden, dass man dann am besten etwas lernen kann, wenn man vorher weiß, was man will. Und um das wiederum zu wissen, braucht es davor Phasen ohne Aktivitäten und äußere Stimulation.

Langeweile kommt also daher, weil wir zu wenig Zeit für Muße haben?
Hüther: Richtig. Wenn ein Kind ständig von außen stimuliert wird, lernt es plötzlich gar nicht mehr, selbst etwas zu gestalten. Als Extrembeispiel nehmen Sie die so genannten Helikoptereltern, die meinen, sie müssten ihre Kinder ununterbrochen unterhalten. Und wenn Sie dann mit diesen Kindern etwa abends in einer Berghütte ohne Netzverbindung sitzen, kommen dann so ungeliebte Sätze wie: Papa, mir ist so furchtbar langweilig!

Wir sollten Kindern nicht unsere Bewertungen überstülpen!

Gerald Hüther, Hirnforscher & Neurobiologe

Zitatzeichen

Inwiefern spornt denn die lange Weile unsere Kreativität an?
Hüther: Es ist tatsächlich so, dass wir nur dann Gestalter sein können, wenn wir die Möglichkeit haben, uns vorher zu überlegen, was wir tun möchten. Wir Menschen wollen von klein auf Gestalter unserer Welt sein. Jedes Kind will mit seinem Lernen nichts anderes, als zugehörig sein. Und es möchte die Welt aus eigenem Antrieb heraus entdecken. Nur leider wird dieser natürliche Lernprozess häufig mit unseren Belehrungen und Bewertungen zunichte gemacht. Die kindliche Freude wird dabei unterdrückt, und dann ist Schluss mit Entdeckungen.

Was können wir tun, damit eine freie Entfaltung möglich ist?
Hüther: Die Aufgabe von Eltern ist nicht, ihren Kindern ihre Bewertungen überzustülpen und sie so zum Objekt ihrer Bewertung zu machen. Muße ist für uns alle eine gute Gelegenheit, innezuhalten und uns zu fragen, nach welchen Maßstäben wir als Familie leben möchten. Dazu müssen wir mit unseren Kindern eine Beziehung aufbauen, ihnen zuhören und mit ihnen reden. Wenn jeder dauernd vor seinem Tablet sitzt, wird das schwer möglich sein. Und mit ständigen Aktivitäten und Phasen der Hektik ebenso wenig.

Unsere Gesellschaft tickt aber so: Wir richten uns danach aus, bessere Leistungsmenschen zu werden …
Hüther: Ja, aber als Familie kann ich mir sehr wohl überlegen, welche Werte für uns gelten und wie wir unser Zusammenleben in der Gesellschaft gemeinsam gestalten möchten. Ich glaube, dass es zu den mitunter wichtigsten Aufgaben des 21. Jahrhunderts gehört, unsere Kinder immer wieder einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, aktive Gestalter unserer Welt zu sein. Viele technische Geräte übernehmen diesen kreativen Part, indem wir sie dazu nutzen, die virtuelle Welt zu gestalten. Dabei sollten wir unseren Fokus wieder mehr auf das reale Leben und sinnvolle gestalterische Aufgaben setzen. Kümmern wir uns als Familie zum Beispiel gemeinsam um andere Menschen. Oder setzen wir uns für eine gesunde Natur ein. Dabei darf jeder aktiv mitgestalten und Vorschläge machen – egal, ob groß oder klein.

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