Erziehung

Sind unsere Burschen in der Krise?

Sie haben häufig mehr Probleme in der Schule und gelten öfters als verhaltensauffällig. Medial war zuletzt öfters die Rede von den abgehängten Buben und jungen Männern. Was ist dran an der so genannten „Bubenkrise“?

 

Während Mädchen in der Schule im Schnitt nachweislich besser abschneiden, seltener sitzen bleiben und häufiger höhere Abschlüsse erreichen, gelten Burschen immer öfters als Problemfälle. Der Trend, dass Buben im Bildungssystem sowie generell in ihrer sozialen Entwicklung nicht so gut wegkommen, wird in Forschung und Medien zunehmend mit dem Begriff „Bubenkrise“ diskutiert. So spricht etwa der US-Sozialforscher Richard Reeves in seinen Buch „Von Jungen und Männern“ von einer „unsichtbaren Krise“ der Männer, die sich besonders in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt und familiäre Bindung zeige. 

 

Sind die Buben schlechter dran?

Pisa-Studien belegen seit Jahren, dass Jungs deutlich mehr Leseschwächen aufweisen, was sich wiederum nachteilig auf alle Fächer auswirkt. Fast zwei Drittel der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind erwiesenermaßen männlich, männliche Jugendliche brechen häufiger die Schule ab und viel mehr Burschen als Mädchen erhalten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Außerdem leiden Buben statistisch gesehen öfters an psychischen Problemen, sind häufiger von Suchtverhalten betroffen und begehen öfters Straftaten. „Tatsächlich beobachten wir in den psychiatrischen Abteilungen von Kindern bis zwölf Jahren einen deutlichen Überhang an Burschen, die Probleme im sozialen Kontext haben – konkret zum Beispiel in Bezug auf Verhaltensauffälligkeiten oder Frustrationstoleranz“, weiß Maximilian Thum. Interessanterweise würden die Burschen laut dem Kinder- und Jugendpsychiater später aber von den Mädchen abgelöst,die nämlich dann ab dem Teenageralter öfters von psychischen Belastungen betroffen seien – vorwiegend solchen, die mit Emotionen oder auch Ängsten einhergehen. Beim Thema ADHS müsse man laut Thum differenzieren: „Es stimmt zwar, dass die Krankheit bei Buben häufiger diagnostiziert wird. Andersrum weiß man, dass ADHS bei Mädchen oft nicht erkannt wird“. Mitunter auch deshalb, weil Mädchen trotz ADHS oft nicht so „hibbelig“ seien und sich beispielsweise in der Schule besser anpassen können ohne durch störendes Verhalten aufzufallen. 

 

Angeboren oder anerzogen? 

Hier die risikofreundlichen, zappeligen, lauten Burschen, die sich mit ihrem lästigen Verhalten in der Schule oft ins Out schießen. Dort die einfühlsamen, fleißigen, ruhigen Mädchen, die sich in der Klasse anpassen und brav mitlernen. Soweit das viel verbreitete Klischee. Stellt sich die Frage, inwieweit solche Rollenzuschreibungen auf Erfahrungswerten beruhen oder ob hierbei auch biologische Faktoren zum Tragen kommen. Neurowissenschafter:innen gehen davon aus, dass sich die Gehirne von Mädchen und Buben hormonell bedingt bereits im Mutterleib unterscheiden. Es gilt als erwiesen, dass Mädchen im Schnitt besser mit Sprache umgehen können, während Burschen in der Regel eine bessere räumliche Orientierung besitzen. Angeboren scheint bei Burschen im Durchschnitt auch eine ausgeprägtere Risikobereitschaft zu sein. Doch die Wissenschaft warnt davor, typische Neigungen von Buben und Mädchen lediglich auf die Biologie zu beziehen. Viele Verhaltensweisen würden weniger etwas mit den unterschiedlichen Hormonen zu tun haben, als damit, wie Erziehung, Schule und das soziale Umfeld die Kids von Beginn an prägen. So betont die Neurobiologin Lise Eliot in ihren Büchern und Vorträgen, dass die angeborenen Unterschiede im Grunde gar nicht so groß seien. Und dass diese wiederum durch das Verhalten von Bezugspersonen, vor allem aber durch die Darstellung der Geschlechter in den Medien sowie durch gesellschaftliche Normen, Vorurteile und Rollenklischees vergrößert werden.

 

 

Fleißig sein ist uncool 

Aus Studien lässt sich ableiten, dass die Schule in ihrer aktuellen Form viele Lernhaltungen bevorzugt, die mit typisch weiblicher Sozialisation übereinstimmen. Dazu zählen das Ruhigsitzen genauso wie Impulskontrolle. Regelkonformes Verhalten ebenso wie ein auf Fehlervermeidung basierendes Lernen. Sozialwissenschaftler wie Marcel Helbig oder Richard Reeves bekräftigen, dass bestehende Rollenbilder sowie Bildungssysteme häufig nicht die aktuellen Herausforderungen berücksichtigen, wie Buben heute heranwachsen. „Die männliche Sozialisation ist oft auf Konkurrenz und Abgrenzung ausgerichtet – Eigenschaften, die im modernen Bildungssystem eher hinderlich sind“, bestätigt Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Hinzu kommt, dass sich Burschen in der Zeit der Adoleszenz häufiger an Dingen orientieren, die in ihrer Freizeit, also abseits der Schule passieren. Mit negativen Folgen auf Lernmotivation und Noten. Der Soziologe Marcel Helbig dazu: „Es gibt einen hohen Druck der männlichen Peergroup, der Fleiß und Strebertum ablehnt und sozial sanktioniert, was bei Mädchen nicht der Fall ist“. Eine schlechte Schulperformance allein am Geschlecht fest zu machen, greife jedoch zu kurz. Außerdem könne nicht pauschal von „den“ Buben als Bildungsverlierer die Rede sein. So ist man sich in der Forschung darüber einig, dass Burschen aus weniger bildungsnahen und sozialökonomisch benachteiligten Milieus besonders betroffen sind. In dieser Gruppe gibt es nachweislich am meisten Probleme in der Schule – sei es auf die schulischen Leistungen bezogen, sei es im Bezug auf das soziale Verhalten – sowie auch die höchste Anzahl an Schulabrechern. In manchen Mileus ist ein patriarchal geprägtes Männlichkeitsbild, das über die sozialen Medien vielfach gepusht wird, weit verbreitet – verbunden mit einer konservativen Männlichkeit, die wiederum mit dem Erfolgsstreben in der Schule konkurriert.

 

Männlichkeit unter Druck

Während sich das Bild von Mädchen und dem, was sie alles sein können, durch Feminismus und Emanzipationsbewegungen glücklicherweise zum Positiven verändert hat, scheinen sich die Ansprüche an Burschen bzw. wie man als Bursche heutzutage zu sein hat, zusehens zu verkomplizieren. Einerseits ist das traditionelle Bild von Männlichkeit unter Druck geraten – Stichwort toxische Männlichkeit. Eigenschaften wie Härte, Dominanz, Rivalitätsdenken oder auch das Zurückhalten von Emotionen gelten heute als problematisch. Weil sie für andere und auch für die Männer selbst schädlich sein können. 

„Andererseits liegen Attribute wie Durchsetzungsvermögen, Risikobereitschaft oder Konkurrenzdenken gerade in unserer stark leistungsorientierten Gesellschaft durchaus hoch im Kurs“, bekräftigt Psychiater Maximilian Thum. „Da kommen den Burschen das Testosteron bzw. eine entsprechende soziale Prägung spätestens im Berufsleben auch wieder zu Gute“. Im Kontext der internationalen Pisa-Schulleistungsstudien der OECD wurde 2009 ermittelt, was Schüler:innen selbst als typisch männlich bzw. typisch weiblich ansehen. Das Ergebnis spiegelt im Grunde in der Gesellschaft weit verbreitete, stereotype Vorstellungen wider. Eigenschaften wie „abenteuerlich“, „sportlich“ oder „durchsetzungsfähig“ wurden als eher männlich betrachtet. Währenddessen „hilfbereit“, „einfühlsam“ oder „fleißig“ eher den Mädchen zugeordnet wurden. Und obwohl Diversity inzwischen mehr oder weniger zum liberalen Mainstream gehört, treffen Abweichungen vom Klischee die Burschen laut Studien meist härter. Zumal ein aufmöpfiges Mädchen, das womöglich auch Fußball spielt, in der Regel mehr akzeptiert wird, als ein Bursche, der beispielsweie eine Vorliebe fürs Basteln hat oder sich für Schminke interessiert.

 

 

Pro-feministische Bubenförderung

Um destruktiven Rollenbildern entgegenzuwirken und Männlichkeit neu zu besetzen, fordern Forscher:innen eine neue Art von Gleichstellungspolitik, die nicht bei der Mädchen- und Frauenförderung endet. Sondern auch differenzierte Unterstützungsmaßnahmen für Buben integriert. Dazu zählen Maßnahmen für eine gerechtere, gendersensible Schule mit zum Beispiel mehr Bewegung und handlungs- bzw. projektorientiertem Unterricht sowie mehr Leistungsbeurteilungen, die individuelle Entwicklungen und geschlechterspezifische Reifeprozesse besser berücksichtigen. Außerdem Förderprogramme speziell für sozial benachteiligte Familien an Schulen. Dabei gehe es vor allem darum, Burschen zu ermutigen, neue Formen von Selbstverständnis zu entwickeln, die Verantwortung, Empathie und Vielfalt einschließen. Zum Beispiel, indem neue männliche Rollenbilder geschaffen werden abseits der klassischen Männlichkeit. Mit mehr Role-Models etwa in pädagogischen oder sozialen Berufen. Oder im Bereich der Fürsorge als Gegengewicht zu männlichen Erfolgsnarrativen, die vorwiegend von Leistung und Macht geprägt sind. Auch eine gezielte Väterpolitik mit längeren Karenzzeiten von Vätern sowie mehr männliche Vorbilder in Kindergärten und Schulen könnten zu alternativen Männlichkeitsentwürfen beitragen. In ihrem Buch „Boy Mum“ vertritt die Feministin und Autorin Ruth Whippman neue Narrative für Burschen, die Männlichkeit in Erziehung und Schule zum Beispiel nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt definieren, sondern als Fähigkeit zu Verbindung, Verletzlichkeit, Verantwortungsbewusstsein sowie gesellschaftlichem Engagement. Oder wie es die Publizistin Sheila Behjat in ihrem Buch „Söhne großziehen als Feministin“ auf den Punkt bringt: „Wenn wir davon ausgehen, dass Jungs halt ‚so sind‘, wie sie sind, dann werden wir unseren Kindern nicht gerecht“. Vielmehr sollten wir als Gesellschaft den Burschen genauso wie den Mädchen empathisch begegnen – und zwar frei von pauschalen Zuschreibungen und Vorurteilen. Womöglich spiegelt es sich am Ende auch in besseren Schulnoten wider, wenn Buben da ein Stück weit vorankommen, wo es bislang wohl noch am meisten Nachholbedarf gibt: In ihrem Vermögen, emotional und sozial zu punkten.

 

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