Medien

Die digitale Welt ist nicht genug

Psychoanalytikerin Nelia Schmid König möchte Eltern zu mehr Engagement und Mut motivieren, ihre Rolle aktiv zu gestalten und die Beziehung zum Kind zu suchen.

 

Die in den letzten 20 Jahren zunehmende Digitalisierung, mit der viele die heute Eltern sind, so nicht aufgewachsen sind und die mehr verändert, als wir uns oft eingestehen wollen, wird von der erfahrenen Psychoanalytikerin Nelia Schmid König in ihrem Buch „Analoge Eltern – Digitale Kinder“ als Ausgangspunkt genommen, um Leser*innen mitzunehmen in die Entwicklungspsychologie ihrer Kinder. Durchaus mit Leidenschaft und mit Beispielen aus ihrem Beruf als Therapeutin, erzählt sie, was Kinder in welchem Alter beziehungsweise Entwicklungsstadium brauchen und wie sie von den Eltern am Besten unterstützt werden können. Sie plädiert dabei dafür, die eigene Rolle überaus ernst zu nehmen und die Bindung zu den Kindern in den Mittelpunkt zu stellen, ohne Herausforderungen klein zu reden. 200 Seiten im Erzählton als Erinnerung sich zu engagieren und für die Kinder einzustehen.

Die Digitalisierung ist der Aufhänger, aber dann nicht Kern des Buches. Ist die Digitalisierung ein Problem oder der Umgang mit dieser?

Nelia Schmid König: Ausschließlich der Umgang. Ich nutze selber die Möglichkeiten der Digitalisierung und bin begeistert. Das Problem ist der Umgang. Er wird dort problematisch, wo die digitale Welt die analoge in den Hintergrund drängt. Wir haben unsere physischen Kontakte in der analogen Welt. Dort begegnen wir einander. Aber dieser natürliche Begegnungsort wird seltener aufgesucht. Die Jugendlichen nutzen die reale Begegnungsmöglichkeit immer weniger. Das beobachte ich leider zunehmend in meiner therapeutischen Arbeit. Jugendliche nutzen die Onlinewelt und schaffen sich eine digitale Umgebung, die sie frei und ohne Einfluss anderer gestalten können. Ein Erleben von großartiger Omnipotenz und gefühlter Unabhängigkeit.

Digitalisierung bietet aber auch Möglichkeit Kontakt zu halten? 

Ja, aber die analogen Kontakte sollten Vorrang haben. Wir bewegen uns doch immer noch in einer physischen, sinnlich erlebbaren Welt. Manche Jugendliche verlernen gerade, wie sie miteinander umgehen sollen – oder etwa bei Verliebtheit in Kontakt treten könnten mit dem angehimmelten Mädchen. Ein Jugendlicher hat mich gebeten, ihm beizubringen, wie man flirtet. “Bei TikTok ist das alles so leicht, doch dann sagen die Mädels, wenn ich es probiere: He, spinnst du, so redest du doch nicht mit mir, ist ja sexistisch!“ Vieles davon hat mit Corona und den Nachwehen zu tun. Es gibt Kinder und Jugendliche, auch junge Erwachsene, die sind damals in ihrem Zimmer verschwunden und nicht mehr wieder richtig aufgetaucht.

Sie gehen in Ihrem Buch wenig auf Inhalte der digitalen Medien ein. Spiele und Filme, Serien werden nur zum Teil unterschieden. Sehen Sie hier Unterschiede?

Ja, es gibt auf alle Fälle auch Inhalte die gut sind. Es gibt das. Ein Beispiel ist für mich eine Jugendliche, die TikTok Kochen gelernt hat. Ich verteufle nichts und bin gegen Verbote. Verbote machen bei Kindern und Jugendlichen einen Reiz aus und sie finden Wege sich Zugang zu verschaffen. Die Erwachsenen mögen auch digital unterwegs sein, aber sie kommen da nicht mit. Es gibt auch digital tolle Sachen. Aber das ist nicht der Grund wieso junge Leute zu mir kommen.

Es gibt eben auch Gewalt, Pornografie, politische Propaganda – das begeistert. Es muss ein Schulfach „Medienkunde“ geben. Das ist überfällig! Und es sollte gleichwertig sein mit Mathe und Deutsch. Es ist überlebenswichtig für eine gesunde mentale Weiterentwicklung unserer Kinder. Es wäre die schon lange notwendige Geste von uns Erwachsenen an die Kinder, ein Signal sozusagen: He, wir nehmen euch und eure Probleme, denen wir uns in unserer Jugend nicht stellen mussten, ernst.

Könnte die Kausalität oft umgekehrt sein, dass Probleme zu mehr digitalem Konsum führen?

Ja. Aber es ist mir wichtig hier nicht sofort an Vernachlässigung oder inkompetente Eltern zu denken. Da wehre ich mich dagegen. Ich habe auch Einserschüler, die bei mir in Therapie sind. Eltern sind selbst im Strudel und überfordert. Und auch unter Corona haben nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern gelitten. Es ist für alle Beteiligten zu einer unfreiwiligen Nähe gekommen und das hat zu Spannungen geführt. Manche haben noch nicht wieder zurückgefunden. Panikattacken und Angststörungen sind nach Corona angestiegen. Aber Eltern haben auch gelitten. Es grassiert Erschöpfung – auch bei Eltern. Es geht nicht um Verwahrlosung.

 

 

Spiele bringen auch Erfahrung, etwa im Bereich Selbstwirksamkeit. Sie bringen das Beispiel des Film „Bruno bei den Wölfen“, in dem ein Kind auch durch Spiele gelernt hat. Wie beurteilen Sie das? 

Ja, Spiele können auch viel beibringen. Auch „Fortnite“ trainiert das Hirn. Eine Ausnahme sehe ich nur bei Pornografie und Gewaltverherrlichung. Bei Pornografie wird ein falsches Männerbild vermittelt. Aber es gibt viele Spiele – und es sind gerade die, von denen Kinder und Jugendliche begeistert sind – die sind wirklich Hirnfutter. Die heutigen Jugendlichen sind schnell im Kopf und das hat auch mit dieser Mediennutzung zu tun. Es hängt wie meistens vom Alter und der Menge der Nutzung ab. Ich ermutige die Eltern auch mitzumachen, sich dazuzusetzen und die Jugendlichen wollen das auch. Dieses Interesse ist Beziehungsgold. 

Zu Beginn des Buches geht es viel um die frühkindliche Bindung zur Mutter und den Eltern. Sie beschreiben, dass Kinder sehr früh in Betreuung gegeben werden. Ich kenne das aus der Schweiz, aber nicht aus Österreich, wie ist das in Deutschland?

In Deutschland werden Kinder selten vor dem Ende des ersten Lebensjahres in Betreuung gegeben – aber das wird immer löchriger. Es gibt bereits Betreuungseinrichtungen, wo die Babys nicht nur über Tag betreut werden, sondern auch übernachten können. Ich bin der Meinung, es ist eine Entscheidung, ob man ein Kind will und man kann sich das vorher überlegen. Es gibt hier auch Bedarf, gerade bei alleinerziehenden Müttern und den wenigen alleinerziehenden Väter, die oft einfach arbeiten müssen. Oft ist es aber keine Not, sondern etwa die Befürchtung im Job benachteiligt zu werden. Die Bindung zu den Eltern im ersten Jahr ist nötig. Es gibt auch für alleinerziehende viele Betreuungsmodelle. Vielleicht können sich auch Mütter zusammentun und sich abwechseln. Gestresste Eltern denken oft zu schnell nur an die Krippe, statt andere Betreuungsmodelle zu suchen.

Haben Sie den Eindruck, dass es an Allgemeinbildung oder Wissen zur kindlichen Entwicklungspsychologie mangelt?

Das Internet wird ja geflutet mit Erziehungstipps! Wir wissen inzwischen viel. Doch was das Internet nicht vermittelt, ist Empathie, gelebte Empathie, die vor allem im Erkennen der enormen Abhängigkeit des Babys von einer liebenden Betreuungsperson liegt. Babys machen alles mit. Sie wollen ja nicht sterben.

Wie kann man das ändern?

Meine Antwort darauf ist nicht modern, sondern zeitlos: Ich möchte jungen Eltern bewusst machen, wie wichtig sie sind, wie groß ihr Einfluss auf die gesunde Entwicklung ihres Kindes ist. Einige Eltern checken das gar nicht mehr, wie wichtig das erste Jahr für die gesunde Entwicklung des Gehirns und der Psyche ist. Das ist auch nicht nur die Grundhaltung der Psychoanalyse, sondern inzwischen das Therapieschulen übergreifende und bestätigte, allgemein gültige Ergebnis der Bindungsforschung. Ich möchte Eltern ermutigen: Tut euch zusammen. Auch die Väter. Es gibt das Erkennen der neu zu gestalten Rolle der väterlichen Teilhabe, doch oft noch keinen adäquaten Alltag dazu.

Sie kommen in ihrem Buch immer wieder auf das nötige Einfordern gesellschaftlicher und politischer Rahmen zu sprechen. Wie können sich Eltern engagieren?

Eltern sind zu wenig politisch. Sie sollen nicht jammern, sondern tun kämpfen für bessere Betreuungsmöglichkeiten, gegen den Lehrermangel auf die Barrikaden gehen. Und wir haben –gerade in Bayern – ein sehr rückständiges Schulsystem, das ganz stark auf Leistung aufbaut. Eltern müssen aktiv auf die Jugendlichen schauen und auch aktiver zu den Lehrer*innen gehen. Sich mehr engagieren und interessieren. Die gemeinsame Zeit ist zu kostbar, um Kinder nur durchzubringen und auf den Schulabschluss zu hoffen. Eltern sollen mitgestalten und nicht nur mitaushalten. Eltern schauen zu oft weg. Es geht darum aus passivem Leiden aktiv zu gestalten. Das müssen Kinder lernen, aber auch Eltern.

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close