Erziehung

Das ist meins!! Nein, MEINS!!!

Schon Kleinkinder werden dazu angehalten, ihre Spielsachen mit anderen Kindern oder den Geschwistern zu teilen. Doch laut Pädagogikexperten können Kinder im Kleinkindalter noch gar nicht freiwillig teilen. Wie gehen wir also mit dem beharrlichen Verteidigen von Schaufel, Bagger & Co. um?

Es ist ein sonniger Herbsttag. Am Kinderspielplatz ist ordentich was los. Im Sandkasten wird auf Teufel komm heraus gegraben, gebaut und – ja, es wäre wohl ein Sandburgenparadies, wenn es nicht so wäre – auch heftig gefetzt.

Für die Formvollendung seines erdenen Bauwerks braucht Finn genau die rote Schaufel, die unbeachtet am gegenüberliegenden Sandkasten-Rand liegt. Schnapp, und schon wird nicht nur kräftig gebuddelt, sondern auch ordentlich gebrüllt. „Das ist meine Schaufel! MEINE!!!“ Der Brüller kommt von Amelie, der rechtmäßigen Besitzerin des kleinen Spatens, den sie nun panisch an sich gerissen hat und – so wie es aussieht – auch nie wieder hergeben mag. Inzwischen sind Finns Papa und Amelies Mama herbeieilt, um das hitzige Sandkasten-Gefecht zu kalmieren. Die Frage ist nur, wie?

Welche Mama und welcher Papa kennt ein solches Szenario wohl nicht? Es passiert ständig – unter fremden Kindern genauso wie unter Geschwisterkindern. Was auch oft passiert, sind folgende Eltern-Reaktionen: „Was? Da hat wohl jemand noch nicht teilen gelernt!“ Oder: „Jetzt gib doch dem Mädchen die Schaufel zurück. Du bekommst sie eh zurück.“ Oder auch: „Du kannst doch dein Spielzeug auch einmal teilen!“

Warum Kinder nicht teilen wollen

Kann das Kind das tatsächlich? Die Antwort der Experten darauf lautet: Kleinkinder sind von Natur aus kleine Egoisten. Ein Blick auf die Evolution verrät uns, warum das so ist. Während die Kindersterblichkeit heute etwa bei 0,4 Prozent liegt, erreichten vor 500–1.500 Jahren nicht einmal 50 Prozent aller Kinder das 14. Lebensjahr. Selbst vor 150 Jahren lag die Kindersterblichkeit noch bei 25 Prozent. Was sagt uns das? Kinder mussten die meiste Zeit unserer Menschheitsgeschichte bitter ums Überlegen kämpfen. Gerade in Großfamilien mit fünf bis zehn Kindern hatten eindeutig diejenigen die besseren Karten, die imstande waren, Ressourcen wie Werkzeuge oder Essen besser zu horten. „Wer Vorräte anlegen konnte, wer am lautesten Dinge einforderte und wer seinen Besitz am besten verteidigte, hatte die besten Chancen, ein Alter zu erreichen, in dem die eigenen Gene weitergegeben werden können“, weiß Erziehungsratgeberin Danielle Graf. Ob es uns passt oder nicht: Unsere Kinder sind rein verhaltensbiologisch etwa auf dem Niveau von Steinzeitmenschen. Die Erfahrung zeigt, dass das vielen Eltern eher nicht so passt. Schließlich gilt jemand, der gern teilt, als großzügig und als guter Mensch. Mit einer entsprechend guten Erziehung würden sich Kinder schon sozial, empathisch und großzügig verhalten. „Teilen können“ – so der vielfache Glaube – sei also etwas, das dem Kind beigebracht werden muss. „Viele Eltern greifen in die Situationen oft aus Angst ein, ihr Kind gelte als unsozial oder man selbst sei als Mutter oder Vater inkompetent“, sagt Danielle Graf. Zum Beispiel, indem die beschämte Mama ihrem Kind, das mit Vehemenz seinen Besitz verteidigt, das Spielzeug aus der Hand reißt und demonstrativ dem anderen Kind gibt.

Kein Muss – sondern ein Entwicklungsschritt

Dabei ist die Fähigkeit, zu teilen, laut Experten ein Entwicklungsschritt und nichts, was unsere Kinder lernen müssen. Mehr noch: Bis zu einem gewissen Alter können Kinder gar nicht freiwillig teilen. Der renommierte Kinderarzt, Buchautor und Entwicklungsforscher Herbert Renz-Polster sagt, dass unser Gerechtigkeitssinn sich nach einem recht einheitlichen, zeitlichen Fahrplan entwickelt. So schreibt er in seinem Buch „Kinder verstehen“, dass es einem Zweijährigen ziemlich egal ist, wenn ein neben ihm sitzendes Kind mehr Gummibärchen bekommt, aber schon die Hälfte der Dreijährigen in so einer Situation lautstark protestieren. Bei den Achtjährigen bestehen immerhin 90 Prozent auf gerechtes Verteilen. Das „miteinander Teilen als angewandter Gerechtigkeitssinn“ gelangt laut Renz-Polster etwas später als der eigentliche Gerechtigkeitssinn ins Repertoire des Kindes. Experimenten zufolge teilen Drei- bis Vierjährige ihre Süßigkeiten praktisch nie freiwillig mit anderen.

Bei den Fünf- bis Sechsjährigen macht das immerhin schon jeder Fünfte. Ab dem Schulalter wird dann sogar mit Kindern aus anonymen anderen Gruppen geteilt. Vor die Wahl gestellt, freiwillig Sticker oder Münzen an andere Kinder abzugeben, entscheiden sich etwa die Hälfte der Sieben- bis Achtjährigen für eine gleichwertige Teilung. Interessanterweise fällt das Teilen in solchen Experimenten Kindern mit älteren Geschwistern schwerer (das betrifft die jüngeren Altersgruppen in stärkerem Maße), was damit zusammenhängen könnte, dass sich diese Kinder tagtäglich gegen eine starke Konkurrenz behaupten müssen. Zudem scheinen vor allem Buben Kinder aus anderen Gruppen auszugrenzen – Mädchen verhalten sich auch den nicht zur eigenen Gruppe gehörenden Kindern gegenüber eher einmal großzügig.

Wie gern teilen eigentlich Große?

In ähnlichen Experimenten teilen Große meist im Verhältnis 30 zu 70 – sie behalten also den Löwenanteil für sich. In der Erwachsenenwelt wimmelt es also keineswegs nur so von heldenhaften Samaritern. Nehmen wir an, ein Papa setzt sich mit seinem neuen Smartphone auf Spielplatzbank. Kommt ein fremder Papa daher, schnappt sich das Gerät und fängt an, eifrig zu tippen. Dem empörten Handy-Besitzers entgegnet der andere: „Jetzt stell dich doch nicht so an, ich muss schnell daheim anrufen. Du kriegst dein Telefon gleich wieder. Man muss doch auch einmal teilen lernen!“ Man könnte meinen, der Vergleich hinkt. Bei näherer Betrachtung nicht ganz. „Von unseren Kinder erwarten wir uns, dass es seine Besitztümer großzügig anderen zur Verfügung stellt“, sagt Danielle Graf. Das sei ja schließlich nur Spielzeug. Dabei werde allerdings vergessen, das Schaufel, Bagger & Co. für Kinder einen ganz anderen Stellenwert haben. „Es handelt sich um den Besitz der Kinder, der mindestens so wertvoll ist wie für uns ein Schmuckstück, unser Geldbörsel oder Handy“, so die Erziehungsexpertin. „Gerade Kinder zwischen ein und drei Jahren definieren sich außerordentlich stark über ihren Besitz.“ Bei jedem unvermittelten Wegnehmen von Spielsachen durch andere Kinder fürchtet es um den Verlust seiner Schätze, denn Kindern ist noch nicht bewusst, dass sie die Sachen wiederbekommen. Nachdem auch die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten oft noch begrenzt sind, kommen wir mit logischen Argumenten kaum weiter.

Kuscheltiere, Schaufel, Bagger & Co. bedeuten für Kleinkinder so viel wie für uns Handy, Laptop oder Geldbörsel.

Wie Kinder ohne Zwang teilen lernen

Aus der Wissenschaft wissen wir: Empathie und Gerechtigkeitssinn entwickeln sich erst zwischen drei und sechs. Vorher können Kinder zwar kooperieren, und freilich gibt es immer wieder Kleinkinder, die unaufgefordert teilen. Dass es sich dabei vielleicht um Süßigkeiten handelt, die man selber eh nicht so mag oder eher weniger das Lieblingsauto, sei dahingestellt. „Häufig steckt hinter diesem Teilen keine altruistische Motivation. Viel eher handelt es sich um das Resultat von beharrlicher elterlicher Aufforderung in der Vergangenheit“, meint Danielle Graf. Die Kinder wüssten also, dass man es von ihnen erwartet. Die beiden Entwicklungspsychologinnen Nadia Chernyak und Tamar Kushnir fanden in einer Studie heraus: Kinder teilen lieber, wenn sie sich freiwillig dazu entschlossen haben, statt nur der elterlichen Ermahnung zu folgen. Die Aussicht auf Belohnung – das zeigt diese Studie auch – steigere die Motivation zum Teilen nicht. Der Grund liegt auf der Hand: Wenn die Belohnung einmal wegfällt, ist auch die Motivation dahin. „Wenn ein Zweijähriger seinem Sandkastennachbarn die Schaufel wegnimmt, ist das ein völlig normales Verhalten. Und wenn er das Förmchen nicht teilen will, wird deshalb nicht später einmal ein Soziopath aus ihm (genauso wenig wie ein Kind einmal deshalb zum guten Menschen wird, weil die Eltern es fürs Teilen überschwänglich loben)“, sagt Renz-Polster in „Kinder verstehen“. Genau deshalb sollten Eltern kein großes Drama aus dem „unmoralischen“ Verhalten ihrer Kleinkinder machen. Moralisieren und Strenge seien fehl am Platz. Vielmehr ginge es darum, die Kleinen Schritt für Schritt ans Teilen und Versöhnen heranzuführen.

Ein Kind, das nicht zum Teilen gezwungen wird, erkennt etwa, dass sein Besitz respektiert wird, und lernt so eher, früher oder später etwas freiwillig abzugeben. Erwachsene könnten sinnvoll eingreifen, indem sie zum Beispiel den Sandkastenkonflikt moderieren. Dabei können die Gefühle, die im Rahmen des Konflikt aufkommen, von elterlicher Seite wertfrei in Worte gefasst werden. Mit dem Ziel, das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken und sie so weit zu begleiten, dass sie über kurz oder lang selbst Lösungen für eine Einigung finden. Bis zur Entwicklung einer gewissen Empathiefähigkeit sei es sinnvoll, das Kind bei der Verteidigung seiner Besitztümer zu unterstützen. In Gesellschaft anderer Kinder, besonders im Kontakt mit Gleichaltrigen, entfalte sich laut Danielle Graf die Fähigkeit, zu teilen, oft schneller, als man glaubt, weil selbst sehr kleine Kinder von ganz allein sinnvolle Strategien entwickeln, indem sie zum Beispiel Tauschobjekte vorschlagen. Was dem Lernprozess immer gut tut, ist nicht zuletzt das aktive Vorleben von Teilen. Wobei Handy & Co. ruhig in der eigenen Handtasche bleiben dürfen.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR:
+ Danielle Graf, Katja Seide: „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch Trotzphasen“, Beltz Verlag
+ Herbert Renz-Polster: „Kinder verstehen. Born to be wild. Wie die Evolution unsere Kinder prägt“, Kösel Verlag

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