Ein bisserl brav sein
Kaum steht Weihnachten vor der Tür, wird in Familien daheim wieder verhandelt, wer brav war und wer nicht. Dabei ist das „Bravsein“ in der Erziehung längst überholt. Wie Eltern Selbstbestimmung und Verantwortung fördern – und das Christkind dabei aus dem Spiel lassen können.

Zimmer aufräumen, Müll raus tragen, Hausaufgaben erledigen. In der Adventzeit laufen alltägliche Aufgaben und Verpflichtungen nicht selten unter der Prämisse: „Der Nikolaus und das Christkind schauen zu!“. Was so viel heißt wie: Wer jetzt nicht brav ist, kriegt später keine Geschenke. Die vielen Gaben zum Fest wollen schließlich wohl verdient sein. Und das, obwohl Eltern von heute eigentlich gar keine „braven“ Kinder mehr wollen. Wie ist das also mit dem „Bravsein“ in der modernen Erziehung?
Überholte Erziehungsideale
Gehorsam sowie brave Pflichterfüllung, ohne viel zu hinterfragen, galten in der Erziehung früherer Zeiten als erstrebenswert. Ein Erziehungsstil, der Unterordnung und Disziplin in den Vordergrund stellte, war im deutschsprachigen Raum sogar über Jahrhunderte prägend und zeigte im NS-Regime seine problematischsten Auswüchse. In der Zeit des Nationalsozialismus war es gar oberstes Erziehungsziel, den Willen der Kinder zu brechen und die Charaktere zu härten. Gehorsam und Bravsein im Sinne von sich Unterordnen galten als Tugenden.
Im Gegensatz zu dieser so genannten Schwarzen Pädagogik, setzt Erziehung heute auf Werte wie Selbstbestimmung und Verantwortungsbewusstsein. Aus Erziehungswissenschaft und Entwicklungsforschung wissen wir, dass es vor allem stabile und wertschätzende Beziehungen sind, die Selbstregulation, Empathie und Eigenverantwortung bei Kindern fördern. Erwachsene werden heutzutage nicht umsonst dazu ermutigt, Kindern vorzuleben, wie man sein Leben selbstbestimmt und verantwortungsbewusst gestalten kann. Ein Ansatz, für den renommierte Expert:innen wie Jesper Juul oder Remo Largo seit Jahren plädieren. Weil eine Gesellschaft Menschen braucht, die nicht einfach funktionieren, sondern sich als gleichwertige Mitglieder von Beziehungsgemeinschaften erleben.
Selbstbestimmt statt angepasst
Eine aktuelle Studie der deutschen Krankenkasse Pronova BKK hat ergeben, dass Eltern heute in der Erziehung nicht mehr primär auf Gehorsam und Anpassung setzen. Stattdessen werden Werte wie Verantwortungsbewusstsein, Hilfsbereitschaft und Selbstbestimmung als zentrale Erziehungsziele genannt. Zwei Drittel der Eltern gaben bei der Befragung an, dass ihnen in ihrer eigenen Kindheit noch Gehorsam und Autorität vermittelt wurden, währenddessen lediglich elf Prozent dies heute noch für zeitgemäß halten. „Bravsein in seiner rigiden Form ist ein Überbleibsel aus Zeiten des Obrigkeitsdenkens“, sagt auch Psychiater und Erziehungsexperte Hans-Otto Thomashoff. Demokratische Gesellschaften verstehen ihre Bürger:innen schließlich nicht als Untertanen, sondern als mündige, selbstbestimmte Individuen. Bestseller-Autor Thomashoff spricht in diesem Kontext vom psychischen Erwachsensein als einen emotionalen und kognitiven Reifezustand, der Menschen dazu befähigt, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen – und zwar nicht aus Angst oder Gehorsam, sondern aus Einsicht und Empathie. Kinder müssten demnach im Rahmen der Erziehung von ihren Eltern lernen, wie sie ihre Emotionen regulieren und reflektieren können. Blinder Gehorsam und Abhängigkeit sind in einer moderner Erziehung Fehl am Platz.

Bravsein dem Christkind zuliebe?
„Das Christkind sieht alles“ – was auf den ersten Blick wie eine nostalgische, harmlose Floskel wirkt, ist nichts anderes als eine Rückkehr in überholte Denk- und Erziehungsmuster. Wie tief alte Erziehungsvorstellungen sitzen und auch kulturell verankert sind, zeigt sich oft genau in emotionsaufgeladenen Momenten – wie etwa in der Adventzeit. Selbst bei Eltern, die sonst in ihrer Erziehung Einsicht über Gehorsam stellen, wird plötzlich wieder das „Bravsein“ zum moralischen Maßstab. Psychiater Hans-Otto Thomashoff dazu: „Eltern sollten sich die Frage stellen, warum sie ihre Forderung an das Christkind delegieren.“ Es sei vollkommen legitim einem Kind gegenüber zu sagen, dass es zum Beispiel aufräumen soll, weil „ich das so möchte“ und nicht der Nikolaus oder sonst wer.
„Schließlich sind es die Eltern, die Werte und Regeln vorgeben, die innerhalb der Familie gelten“, sagt Thomashoff. Kinder sollten verstehen lernen, was richtig ist – nämlich für sich und auch für andere. Dazu gehört auch, eigene Grenzen zu spüren und jene anderer zu achten. Ebenso wie das „Nein“ sagen dürfen, indem man „Ja“ zu sich selbst sagt. Mag sein, dass hinter den mitunter recht beliebten „Christkind-Ermahnungen“ kein böser Wille dahinter steckt, sondern der simple Wunsch, das Kinder im Haushalt mitmachen bzw. bestimmte Aufgaben erledigen sollen. Nichtsdestotrotz sollten Eltern überlegen, wie sie ihre Forderung nach Ordnung, Hilfbereitschaft oder Rücksichtnahme formulieren könnten, ohne sie an unsichtbare Instanzen oder Autoritäten zu koppeln. Am Ende sollten Kinder nicht lernen, dass Gehorsam belohnt wird. Sondern die Einsicht gewinnen, warum es wichtig ist, bestimmte Regeln einzuhalten bzw. Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.
Das zu vermitteln sollte auch ohne Nikolaus ganz gut funktionieren – und erst recht ohne Krampus. Was es aber vor allem braucht: Das Vertrauen von Eltern darauf, dass ihre Kinder lernen, selbst gute Entscheidungen zu treffen. Und zwar aus der eigenen Motivation heraus und nicht, weil irgendwer zuschaut, bewertet, belohnt oder bestraft. Und heißt es wieder einmal, dass man „halt ein bisserl brav sein muss“, sollten wir uns alle um eine neue Deutung bemühen. Denn brav ist, wer Verantwortung übernimmt. Wer Nein sagen kann. Wer Mitgefühl zeigt. Und das Christkind? Nimmt uns das sicher nicht übel.
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