Mein Kind stiehlt

Das Kind ist aufgeschlossen, intelligent und wirkt zufrieden. Doch es stiehlt. Vor Kurzem hat es im Supermarkt Schokolade eingesteckt und bei den Nachbarn das Handy. „Die Nachbarn haben es mir geschenkt“, wird es später behaupten. „familiii“ hat mit dem Experten Dr. Christian Gutschi gesprochen.
„Eine meiner Kernerfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Kindern ist: Kein Kind tut etwas ohne Grund. Aber die Hintergründe für kindliches oder jugendliches Verhalten können sehr vielfältig sein“, so der Kinderpsychologe Christian Gutschi. Zuerst einmal wichtig ist, das Alter und den sozialen und emotionalen Entwicklungsstand des Kindes zu kennen. Dann die weiteren Einflussfaktoren – Eltern, familiäres Umfeld, Freunde, die Qualität der Bildung zu Vater und Mutter. „Ganz wichtig ist es, die Persönlichkeit, die Eigenart des Kindes zu sehen, seine Anlagen. Oft wird viel zu wenig beachtet, dass Kinder in ihrem individuellen Sosein gesehen werden, mit dem, was sie an Eigenschaften schon in die Welt mitbringen, die durch Erziehung und Begleitung oft verstärkt werden“, erklärt Gutschi, der auch im Kriseninterventionszentrum „Die Brücke“ in Hollabrunn und in freier Praxis arbeitet.
Kinder haben einen inneren Drang zu forschen, zu erkunden, Grenzen spüren zu wollen, sie sind von sich aus neugierig, „Vieles davon passt mit den Ansprüchen der Erwachsenenwelt nicht zusammen, daher braucht es eine aktive und bewusste Auseinandersetzung der erwachsenen Bezugspersonen mit dem kindlichen Verhalten. Offene, verständnisvolle und haltgebende Beziehungen sind unumgänglich, damit sich ein Kind gut entwickeln kann“, sagt der Experte.
Eignet man sich Dinge aus fremdem Besitz ohne die Zustimmung des Eigentümers an, dann spricht man vom Stehlen.
„Das bedeutet, dass Diebstahl in sozialer, moralischer und ethischer Hinsicht erst dann existiert, wenn ein Kind bewusst zwischen MEIN und DEIN zu unterschieden gelernt hat“. Die Gewissensbildung stellt eine fließende Entwicklung dar: Im Alter von ein oder zwei Jahren verstehen die Kleinen in ihrem ersten Entwicklungsschritt, dass sie einem anderen Kind sein Spielzeug nicht wegnehmen dürfen, weil es sonst traurig wird. „Kinder dieser Altersgruppe verstehen das aber nur für den Moment, in welchem man es ihnen erklärt und kennen den Begriff Eigentum nicht. Das Verhalten wird von Bedürfnisimpulsen gesteuert und folgt emotionalen Strukturen.“ Gelegentliches Stehlen von Süßigkeiten aus der Küche oder eines Spielzeugs aus dem Kindergarten geschieht ohne nachzudenken: „Das Kind nimmt sich einfach, was es gerade haben will. Es tut dies unbewusst aus einem inneren Drang heraus, ohne sich des Unrechts bewusst zu sein.“
Erst ab dem vierten oder fünften Lebensjahr können Kinder mit dem abstrakten Begriff von Besitz etwas anfangen. „Spätestens im Volksschulalter sollten Eltern ihrem Nachwuchs deutlich klar machen, dass es Privateigentum gibt. Und dass man es nicht wegnehmen darf, unabhängig davon, welche emotionalen Reaktionen das auslösen kann.“ Wenn ein Kind stiehlt, ist das für die meisten Eltern ein Schock, Gutschi relativiert: „Manche Eltern sehen ihre Kinder gleich auf der Verbrecherlaufbahn, schämen sich für ihre Kinder und glauben, dass sie in der Erziehung versagt hätten. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Stehlen oder sich etwas aneignen, das einem nicht gehört, ein ganz normales, kindliches Verhalten sein kann und zum Spektrum der kindlichen Entwicklungsthemen dazu gehört. Und jeder Elternteil, der über das Stehlen seines Kindes schockiert ist, sollte in sich gehen und sich fragen, ob er/sie nicht auch einmal als Kind etwas hat mitgehen lassen.“
Stehlen kann zum paradoxen Selbsthilfeversuch werden
Wenn ein Kind zum ersten Mal flunkert, stiehlt oder so tut als ob, zeigt es damit, dass es einen wichtigen, intellektuellen Entwicklungsschritt gemeistert hat. „Jemanden hinters Licht zu führen, selbst auf Nachfrage die Wahrheit leugnen und das Geheimnis bewahren, ist eine sehr anspruchsvolle, kognitive Leistung, die das Kind ab dem späten Kindergarten ausprobiert und bis zum zehnten Lebensjahr perfektioniert. In den meisten Fällen geschehen Kinderdiebstähle in der entsprechenden Entwicklungsphase, die auch wieder vorübergeht.“ Stehlende Kinder, die erwischt werden, schweigen oft beharrlich zu den Gründen warum sie stehlen. Meistens wissen sie auch nicht, warum sie es tun. Aber sie schämen sich, haben Schuldgefühle und ziehen sich im schlimmsten Fall in sich selbst zurück. „Dies führt wiederum dazu, dass sie, um die seelische Spannung und innere Einsamkeit zu kompensieren, erneut stehlen.
Stehlen kann so zum paradoxen Selbsthilfeversuch werden, zum wiederholbaren, emotionalen Ausgleich einer unter Konfliktspannung stehenden kindlichen Psyche, die sich zudem erst in Entwicklung befindet.“ Gutschi empfiehlt Eltern, aktiv mit ihren Kindern über ihre eigenen Eigentumsrechte und die Berücksichtigung von Eigentumsrechten anderer zu sprechen und ihnen klar ihre Grenzen zu zeigen. Eltern sind vor allem die ersten Vorbilder: „Wenn man unerlaubt Schreibartikel aus dem Büro mitnimmt und das auch noch für selbstverständlich erachtet, wird man als Elternteil unglaubwürdig und verwirrt sein Kind.“
Wann braucht ein Kind Hilfe von Außen?
Die Hintergründe für das kindliche Stehlen können vielfältig sein: der Wunsch nach Aufmerksamkeit, emotionale und soziale Gründe, ein nicht gelernter Bedürfnisaufschub, Stehlen als Aggression. Wann aber braucht es Hilfe von Außen? „Stehlen bedeutet, dass ein Gegenstand als Ersatz für die Nähe oder die Aufmerksamkeit einer geliebten Person – meist von einem Elternteil – dient. Das Kind symptomatisiert mit dem Stehlen, für alle sichtbar, ein problematisches Familienkonstrukt. Ein systemisches Problem ist häufig eine der Ursachen, daher kann das Problem nur systemisch gelöst werden. Das bedeutet, dass alle Beteiligten daran arbeiten müssen.“ So lange Kinderdiebstahl die Ausnahme bleibt, kann das Problem innerhalb der Familie gelöst werden. Stiehlt ein Kind allerdings noch im Schulalter und das womöglich häufiger, sollte man psychologische Beratung hinzuziehen, denn diese kann Eltern helfen, tiefer in die Thematik einzusteigen und Zusammenhänge zu erkennen.
„Gerade bei Jugendlichen ist es wichtig, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und ehrliches Interesse an ihrem Befinden zu signalisieren, bevor sie komplett zumachen. In diesem Alter kann das Stehlen auch ein Zeichen für ein Intelligenzdefizit, ein Entwicklungs- oder ein Beziehungsproblem sein.“ Der berühmte Buchautor Jesper Juul gibt folgenden Tipp: „Stehlen alleine ist zunächst kein Grund, alarmiert zu sein. Aber es ist wichtig, dieses Verhalten ernst zu nehmen, neugierig und interessiert zu sein und versuchen zu verstehen, was vor sich geht. Wenn Kinder in Bezug auf Diebstähle lügen, ist das ein gutes Zeichen. Denn damit zeigen sie ihr Unrechtsbewusstsein.“

Tipps für Eltern
- Dem Kind sachlich und klar erklären, dass Stehlen nicht erlaubt ist
- Die Situation analysieren: Was hat das Kind benommen, von wem, was hat es damit gemacht. Daraus erkennt man oft die Motivation: Wen beneidet das Kind, wem will es schaden, von wem erwartet es mehr, als es bekommt
- Mit gutem Vorbild vorangehen, im eigenen Verhalten Korrektheit zeigen
- Dabei helfen, das Diebesgut zurück zu geben oder zurück zu zahlen. Die Konfrontation mit dem Bestohlenen wirkt oft Wunder in Sachen Gewissensbildung
- Sicherstellen, dass der junge Täter in keiner Weise vom Diebstahl profitiert
- Vermeiden von Unterweisungen wie die Prophezeiung von zukünftigem Fehlverhalten oder nachhaltige Verurteilung als Dieb, ebenso Bloßstellung
- Strafe schützt nicht vor weiteren Diebstählen. Besser: mit viel Einfühlungsvermögen der Sache auf den Grund gehen versuchen
- Dem Kind spielerisch klar machen, was MEIN und DEIN ist
- Nach Rückgabe oder Rückzahlung des gestohlenen Gegenstandes sollte die Angelegenheit von den Eltern als erledigt betrachtet werden. So ermöglicht man dem Kind einen Neustart
- Bei anhaltenden Diebstählen professionelle Hilfe in Anspruch nehmen
Büchertipps für Kinder und Eltern
„Das Ding oder der verflixte Diebstahl“ von Mirjam Pressler
„Räuber Raffi mopst sich was. Eine Geschichte über Meins und Deins“ von Ulrike Kaup
„Mit den Augen eines Kindes sehen lernen – Skizzierung am Beispiel Lügen und Stehlen“ von Bettina Bonus
„Grenzen, Nähe, Respekt – Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung“ von Jesper Juul
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Dr. Christian Gutschi ist Klinischer- und Gesundheitspsychologe, Kinder- Jugend- und Familienpsychologe.
Er arbeitet im Kriseninterventionszentrum „Die Brücke“ in Hollabrunn, in freier Praxis und ist zertifizierter Begleiter von Kindern und Jugendlichen (Existenzanalyse) sowie Lehrbeauftragter an der FH Kärnten (Gesundheitsberufe).
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