Nachhaltigkeit

Das Klima-Experiment: Familien im Selbstversuch

Wie lassen sich die Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens im eigenen Wirkungskreis leben? 20 Familien aus Baden machen im Rahmen des Projekts „Paris-Baden“ den Selbstversuch. „familiii“ hat exemplarisch vier davon befragt.

Das Ziel ist ambitioniert, sein Erreichen von existenzieller Bedeutung – und scheinbar unerreichbar groß: 2015 hat sich die internationale Staatengemeinschaft auf der Klimaschutzkonferenz in Paris durchgerungen, der vom Menschen verursachten Erwärmung der Erdatmosphäre klare Grenzen zu setzen. Nicht wärmer als +1,5 Grad Celsius soll es im globalen Durchschnitt werden. Um diese „Ziele von Paris“ zu erreichen, muss die Menschheit bis 2050 nahezu ohne Treibhausgasemissionen leben lernen. Hehre Ziele, gigantische Zahlen, fast dreißig Jahre in der Zukunft. Aber was bedeutet das konkret für mich und meine Familie? Wie muss ich meinen Alltag neu ausrichten, damit die globale Erwärmung im Rahmen bleibt?

Ein guter Tag hat 100 Punkte

Die Auswirkungen des Kleinen im Großen erproben in Baden bei Wien seit Ende April zwanzig Familien im Rahmen des Projekts „Paris-Baden“. Dazu wurde zuerst für jeden der beteiligten Haushalte der Ausstoß klimawirksamer Gase ermittelt. Grundlage ist die in Bregenz entwickelte Plattform „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ und deren neue App, die mit Fördermitteln des Austria Wirtschaftsservice (AWS) weiterentwickelt wird. Sie verschafft einen schnellen Überblick, wo die großen Hebel für eine Reduktion der Klimagase liegen. Erfasst werden die Bereiche Ernährung, Konsum, Mobilität, Strom, Wärme und Wohnen. „Wir versuchen Menschen zu motivieren, bieten Aktionen und Projekte zum Mitmachen an und sind wo es geht ein gutes Vorbild“, erklärt Gerfried Koch, Leiter des Klima- und Energiereferats in Baden, der das Projekt mit seinem Team umsetzt. Nach vorbereitenden Workshops (z. B. zum Thema vegetarisches Kochen) werden die Familien bis in den Sommer hinein laufend mit konkreten Möglichkeiten konfrontiert wie sich das eigene Leben klimaschonend gestalten lässt. Im Fokus steht die Freude am Ausprobieren und der Austausch unter Gleichgesinnten. Die Stadt vermittelt Kontakte zu Energieberatern, organisiert Lastenräder und Elektrofahrzeuge zum Testen, motiviert zum Gründen von Fahrgemeinschaften.

„Bei unserem Punktesystem geht es nicht ums Erbsenzählen, sondern um das Begreifbarmachen notwendiger, fundamentaler Änderungen“, erklärt Martin Strele, Gründer von „Ein guter Tag“. Dabei gewinne der Gruppenprozess in Baden gerade an Dynamik: „Einzelne Haushalte, die beim Energieversorger um Fernwärme angefragt hatten, waren bislang abgeblitzt. Jetzt tun sich plötzlich ganze Straßen zusammen und fordern das. Das ist ein Ansatz, der klappen kann.“

Initiator Gerfried Koch beobachtet mit Freude, dass das Projekt bereits andere Familien animiert. Er verspricht: „Erfahrungen aus dem Projekt werden auch in ein künftiges Programm der Stadt Baden einfließen, wo es darum geht, mit Bürgerbeteiligung den Parisfahrplan für Baden bis 2050 festzuschreiben.

Die Plattform zum Projekt

„Ein guter Tag hat 100 Punkte“. Der gleichnamige CO2-Rechner bildet den Rahmen für das Klimaschutzexperiment „Paris-Baden“. Damit lässt sich individuell berechnen, wie hoch der eigene Ressourcenverbrauch ist. Ab Sommer auch als kostenlose App erhältlich. Im Residenz Verlag sind vom Autor dieses Artikels auch zwei Bücher zum CO2-Rechner erschienen (zuletzt „100 Punkte Tag für Tag. Miethühner, Guerilla-Grafting und weitere alltagstaugliche Ideen für eine bessere Welt“).
www.eingutertag.org

WIE LÄSST SICH DER ALLTAG MIT BABY NACHHALTIG GESTALTEN?

 

„Der Austausch mit ähnlich Denkenden reißt einen mit.“
Martina Baumgartner, 30,
Gymnasiallehrerin in Karenz

„Wir waren wirklich überrascht, wie leicht und problemlos sich ein veganer Kuchen backen lässt. Davor dachte ich, dass es da vielleicht exotische Zutaten braucht, die schwer zu bekommen sind“, gesteht Martina Baumgartner (30). Auch der Kochworkshop zum fleischlosen Kochen, an dem sie mit ihrem Mann Marc (34) im Rahmen des Projekts „Paris-Baden“ teilnahm, hat das Paar inspiriert. Beide schätzen den Austausch mit Gleichgesinnten. Das motiviert, sich auf Neues einzulassen – beispielsweise auf Zero-Waste-Kosmetik und das Selbermachen von Putzmitteln. „Ich war verblüfft, wie einfach das geht.“ Als nächstes freut sich die Familie aufs Ausprobieren eines Lastenrads, das von der Stadt organisiert wird. Töchterchen Viola wird seit Kurzem mit Stoffwindeln gewickelt. „Da fällt plötzlich sehr viel Müll weg. Seit wir ein Baby haben, ist es aber schwieriger geworden, bewusst einzukaufen. Manchmal fehlen mir Geduld und Zeit. Und manchmal braucht man einfach schnell etwas – zum Beispiel einen Sonnenhut – und kann nicht lange auf Willhaben suchen.“ Nach ihrer Karenz, das weiß die Lehrerin, wird sie das Interesse ihrer Schülerinnen und Schüler („die sich sehr für Fridays For Future engagieren“) jedenfalls noch mehr mit Fakten füttern als bisher schon…

WO LIEGEN DIE GRENZEN DES PERSÖNLICH MACHBAREN?

 

„Wollen die Verwandtschaft in China mit dem Zug besuchen.“
Heidrun Chen, 48,
Allgemein- und TCM-Medizinerin

Für Sebastian (12), Florian (18), Matthias (15) und Sandra (9) hat sich nichts geändert seit ihre Eltern entschieden haben, sich als Familie am Experiment „Paris-Baden“ zu beteiligen. „Für die Kinder bedeutet Konsum seit langem zu 99 Prozent Second Hand. Wir essen weitgehend vegetarisch, fahren zweimal im Jahr mit dem Zug auf Urlaub, fliegen nicht und leben autofrei“, sagt Heidrun Chen (48). Nach dem Gespräch bricht sie spätabends dennoch zur Tankstelle auf – zum „Food Saving“, um die Reste des dort nicht verkauften Gebäcks zu retten. Wenn es im Hause Chen (selten, aber doch einmal) Fleisch gibt, dann Wildbret. Im Versuch, den persönlichen Ressourcenverbrauch auf die täglichen 100 Punkte heranzubringen, den die App „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ als Maß aller Dinge ermittelt hat, ist die Medizinerin mittlerweile bei 120 Punkten angelangt. „Wie wir auf 100 Punkte kommen sollen, ist Gottfried und mir aber ein Rätsel“, bekennt sie. „Eigentlich sehe ich als einzigen weiteren Hebel, auf Demos zu gehen – um den Rahmen politisch zu verschieben.“ Im privaten Umfeld sei man „nicht missionarisch, aber aktiv“. Und macht sich etwa dafür stark, dass die Schulklasse der Kinder mit dem Zug nach England auf Sprachreise fährt. Nächstes großes Familienprojekt: die Verwandtschaft in China besuchen – mit dem Zug natürlich.

WIE WIRD DAS WOHNHAUS KLIMAFIT?

 

„Die Kinder sind begeistert und Obst- und Gemüsefans geworden.“
Wolfgang Mayerhofer, 40,
Barchef im Casino Baden

„Bislang waren wir beim Einkaufen eher faul und einfach im Supermarkt“, meint Wolfgang Mayerhofer (40). Seit man den eigenen Lebensstil kritisch durchleuchtet, gestaltet sich der Einkauf aber deutlich bewusster. Einerseits habe man gerade eine Gemüsekiste abonniert, isst öfter als bisher vegetarisch. Andererseits achte man genau darauf, woher das Gekaufte stammt. „Da gibt es oft Überraschungen, wenn man beim Kleingedruckten auf die Herkunft schaut – auch bei Bioprodukten. Meine Frau Juliana und ich wollen in Zukunft lokaler einkaufen“, berichtet er. Marie-Sophie (9) und Konstantin (3) sind von der neuen Achtsamkeit hellauf begeistert. Vor allem der Verzicht aufs Autofahren und dass Papa die Vespa stehen lässt, findet beim Nachwuchs Gefallen. „Den Kindern taugt das gemeinsame Radeln irrsinnig und auch das Naturverbundene.“ Als Sommerurlaub habe man heuer deshalb eine Radtour durch die Wachau geplant. Das Haus, das erst im Vorjahr bezogen wurde, wurde durchs Experiment „Paris-Baden“ zum nächsten Projekt. Es wird ökologisch saniert, die alte Ölheizung wird entsorgt. „Eventuell kommt eine Luft-Wärme-Pumpe zum Einsatz – oder eine Tiefenbohrung, da vergleichen wir gerade.“

WIEVIEL MOBILITÄT BRAUCHT EIN GUTES LEBEN?

 

„Erster Schritt: Kilometerleistung halbieren. Zweiter Schritt: ohne Zweitauto auskommen.“
Johannes Weidhofer-Bousek, 35,
Katastrophenhelfer beim Roten Kreuz

„Wenn wir nicht weniger fliegen, ist alles andere egal“, seufzt Gudrun Weidhofer (35). Als in der Pharmabranche Beschäftigte ist sie ebenso viel unterwegs wie ihr Mann Johannes (35). Der ist zwar derzeit in Karenz, sonst aber als Katastrophenhelfer regelmäßig im Ausland. Auch ausgedehnte Reisen gehörten vor der Geburt von Gregor (1) zu den Leidenschaften des Paares. Im Vorjahr stieg man erstmals auf die Bahn um, verreiste mit dem Autoreisezug über Nacht nach Italien und nach Norddeutschland – und war begeistert. „Ein Hoch aufs Langstreckennetz der ÖBB, das ist echt superfein!“, sagt Gudrun Weidhofer. In die Arbeit in den Norden von Wien werde sie aber wohl weiter mit dem Auto pendeln. „Mit den Öffis brauche ich dreimal so lange.“ Ihr Mann Johannes möchte – „zumindest so lange es warm ist“ – Dinge mit dem Rad erledigen und hat sich nun ein Cargo Bike Kit bestellt; damit lässt sich das Rad mit wenigen Handgriffen in ein Lastenrad verwandeln und somit der Wocheneinkauf mit dem Rad erledigen.

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