Bildung

Ich bin legasthen. Na und?

Kinder mit Legasthenie unterscheiden sich durch ihre Wahrnehmung, auf die entsprechend eingegangen werden muss – mit Förderung und ohne Druck.

Kinder Legasthenie

Ihr Kind schreibt in einem Aufsatz ein und dasselbe Wort in fünf verschiedenen Versionen? Trotz mehrmaligem Üben werden manche Wörter einfach nicht gemerkt? Das Lesen geht nur stockend? Dieses Phänomen betrifft zehn bis 15 Prozent der Menschen – man kennt es unter dem Namen Legasthenie.

Claudia Ertl übt spielerisch mit den Zwillingen Chiara und Sophia (8 Jahre): Beide sind in der 2. Klasse Volksschule und haben Dyskalkulie, sie verwechseln die Grundrechnungsarten und benötigen beim Lernen eine Förderung.

Die Teilleistungsschwäche hat jedoch nichts damit zu tun, dass ein Mensch weniger intelligent ist. Im Gegenteil, betont Claudia Ertl, Montessoripädagogin und Legasthenie- sowie Dyskalkulietrainerin: „Wichtig ist, dem Kind zu vermitteln, dass es mit seiner Wahrnehmung nicht alleine ist. Kein Mensch ist perfekt, jeder hat seine Stärken und Bereiche, wo er mehr üben muss. Beim Lesen und Schreiben ist dies einfach schneller offensichtlich als bei einem anderen Thema, besonders in der Schule. Wäre das Kind schlechter beim Klavierspielen, Malen und Basteln, würde es nicht so auffallen.“

Obwohl Legasthenie in den meisten Fällen erst in der Volksschule auffällt, gibt es auch bei den Kleinsten Merkmale, die darauf hindeuten können, beschreibt die Expertin: „Die Kinder hören ungenau, die Endungen der Wörter werden nur undeutlich gehört, sie können nicht hundertprozentig richtig Nachsprechen oder haben Schwierigkeiten beim Lernen der Monatsnamen, sie merken sich zum Beispiel die Reihenfolge nicht. Auf der anderen Seite sind diese Kinder oft überdurchschnittlich gut in den Bereichen Sport oder Musik, sehr intelligent und weisen Ausdauer bei Spielen auf, etwa bei Memory. Sobald sie aber mit Symbolen wie Buchstaben konfrontiert sind, werden sie unkonzentriert und es geht nichts mehr.“ In der Volksschule verwechseln Kinder dann oft d und b, n und m, p und q, schreiben unleserlich oder quetschen noch ein paar Buchstaben in die Reihe, die dann in einem Bogen nach unten verläuft, weil die Zeile nicht gehalten wird, schildert Claudia Ertl. „Auch die Groß- und Kleinschreibung macht den Kindern Probleme, genauso wie den Unterschied zwischen harten und weichen Konsonanten zu hören, also d/t, g/k, b/p. Außerdem werden i-Punkte, Umlautstriche und Satzzeichen vergessen.“

Testen, wahrnehmen, mit Spaß üben

Wenn Eltern oder Lehrer also den Verdacht haben, dass das Kind eine Lese- und Rechtschreibschwäche hat, sollte es ausgetestet werden. Claudia Ertl: „Am besten von einem Legasthenietrainer, der für die Schule ein pädagogisches Gutachten schreiben kann. Ich mache beispielsweise einen AFS-Test (Aufmerksamkeit, Funktion, Symptom), dieser funktioniert bei Kindern ab dem Zeitpunkt, wo sie alle Buchstaben gelernt haben, also Ende der ersten und zu Beginn der zweiten Klasse.“ Der Test ist bis zum Alter von 14 Jahren gut geeignet, danach kann die Wahrnehmung nicht mehr so gut trainiert werden, erzählt die Expertin. „Erwachsene versuchen sich Strategien zurechtzulegen, etwa auswendig zu lernen.“
Der AFS-Test prüft Wahrnehmungen im optischen und akustischen Bereich, Körperschema und Raumorientierung. „Wird eine Legasthenie festgestellt, so ist es mir zuerst sehr wichtig, alles mit den Eltern zu besprechen – wir müssen zusammenarbeiten, und zwar vorrangig am Selbstwert des Kindes, der oft schon sehr erschüttert ist. Ich trainiere gezielt die notwendigen Wahrnehmungen und parallel dazu, möglichst interessant und individuell für den Schüler, Symptomtraining und Rechtschreibung. Das Schreiben versuche ich an die Vorlieben der Schüler anzupassen: Rätsel beim Schnurspringen, Trampolin hüpfen, mit Moosgummi- oder Nudel-Buchstaben Wörter auflegen, mit bunten Stiften Wörter nachmalen, von mir erstellte Schleifpapierbuchstaben erfühlen, 3D-Holzbuchstaben erfühlen und vieles mehr. Wichtig ist vor allem, dass das Kind gut mit dem Trainer auskommt. Das Training soll Spaß machen und spielerisch erfolgen, kein Krampf sein.“

Herumtoben und die Welt beGREIFEN

Die Konzentration steigern, visuelles und haptisches Lernen sowie viel Bewegung und frische Luft sind weitere wichtige Erfolgsfaktoren beim Trainieren und Fördern, beschreibt Claudia Ertl: „Beispielsweise die liegende Acht mit Stiften nachfahren, auch mit der NICHT-Schreibhand und mit geschlossenen Augen. Das Jonglieren wieder umhilft, dass beide Gehirnhälften gleichzeitig trainiert werden.“ Sport und Herumtoben im Freien unterstützen außerdem den Gleichgewichtssinn, die (Fein-)Motorik und Wahrnehmung im Allgemeinen. „Das Kind sollte immer in seiner Gesamtheit betrachtet und nicht auf Schulnoten reduziert werden. Hilfreich ist es natürlich auch sehr, wenn die Lehrer mit dem Thema offen umgehen.“

Legasthenie kann vererbt sein

Stefan Lang kennt die Thematik von beiden Seiten. Er ist selbst legasthen und Vater von zwei Buben mit Legasthenie. Der Doktor in Maschinenbau erinnert sich an seine Kindheit: „Wie ich im Jahr 1971 zur Schule gegangen bin, war das noch nicht so konkret als Teilleistungsschwäche definiert, es gab keinen Förderunterricht, so, wie es ihn heute gibt. Ich habe nach zwei Jahren in der Volksschule nur sechs Buchstaben gekonnt. Meine Oma, die selbst Volksschullehrerin war, hat damals sehr geduldig mit mir geübt und viel gelernt. Außerdem habe ich mir selbst geholfen, indem ich Texte auswendig gelernt und Sätze von hinten nach vorne gelesen habe. In Deutsch konnte ich viele Prüfungen mündlich machen und in den anderen Fächern war ich gut.“ Da er damals in Deutschland lebte, war er mit einem anderen Notensystem konfrontiert, welches ihm auch entgegengekommen ist, erzählt Lang: „Stil, Inhalt und Rechtschreibung waren drei Faktoren, die gleich wichtig waren und zu einer Gesamtnote zusammengezählt wurden.“ Für ihn war der Stress mit dem Thema Rechtschreibung nach der Matura vorbei, erinnert er sich: „Ich habe mein Studium und Doktorat in Maschinenbau absolviert und heute hab ich, wenn ich es brauche, die Rechtschreibung am Computer“, lacht er.

Bei seinen Söhnen wurde Legasthenie zu sehr unterschiedlichen Zeiten festgestellt: „Philipp ist jetzt 19 Jahre und plant, im Herbst ein Studium zu beginnen. Bei ihm haben wir es schon in der Volksschule bemerkt und ihn durchgehend gefördert. Beim heute 14-jährigen Christian war es in der Volksschule kein Thema. Erst als er in ein gutes Gymnasium gekommen ist, auf das Schulschiff, wurden wir aufmerksam. Er hatte auch ausgezeichnete Noten, nur dann wurde klar, dass er hier auch Förderung braucht.“ Beiden hat das Legasthenietraining sehr geholfen und sie sehr gestärkt: „Wichtig war, den Frust und Stress herauszunehmen, darauf haben die Kinder sehr angesprochen. Christian ist jetzt seit dreieinhalb Jahren bei Claudia Ertl im Training und profitiert enorm davon.“ Lernen mit Bewegung war ein großer Erfolgsfaktor bei seinen Söhnen, erzählt Stefan Lang: „Beide Burschen machen viel Sport, Christian lernt regelmäßig, während er sich bewegt, etwa am Trampolin.“ Auf die Frage, welchen Tipp er Eltern geben würde, meint er: „Geduldig bleiben, den Stress herausnehmen, das Kind fördern und stärken und den Kontakt mit den Lehrern aufrechterhalten und um Verständnis werben, dass es sich wirklich bemüht. Und eines sollte man auch nie vergessen: Noten sind nicht das Wichtigste im Leben. Viel wichtiger sind ein gesunder Selbstwert und Freude am Lernen.“

Checkliste: Wie erkenne ich Legasthenie?

Auch wenn erste Anzeichen im Kindergarten und in den ersten zwei Klassen reine Entwicklungsverzögerungen sein können, sollte man achtsam sein, wenn folgende Schwierigkeiten auftreten (eine Auswahl):
Früherkennung
Schwierigkeiten in der phonologischen Bewusstheit, dazu zählt: Reime erkennen, Silben trennen und zählen, Anlaute und Endlaute identifizieren, Wortlängen vergleichen, Probleme beim Erlernen von Kinderliedern und Gedichten sowie beim Einhalten bestimmter Reihenfolgen. Verzögertes Lernverhalten, auch im grob- und feinmotorischen Bereich.
Primarstufe
Vertauschen von Buchstaben und Zahlen, Auslassen und Hinzufügen von Buchstaben, Probleme, Buchstaben miteinander zu verbinden, langsamer Schreibfluss, Links-rechts-Unterscheidung fällt schwer, schlechte Raumorientierung.
Sekundarstufe
Fortlaufende Fehler beim Lesen, kein Leseverständnis, Probleme beim genauen Abschreiben, Aussprachefehler und „schlampiges“ Sprechen.

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