Bildung

Große Entscheidung mit 10… …auf Biegen und Brechen ins Gymnasium?

Alle wollen für die Zukunft ihrer Kinder nur das Beste. Nicht umsonst ist das Gymnasium für viele Eltern der ideale Bildungsweg. Doch ist es für die Kinder auch immer der richtige? Und welche Rolle spielen neben Begabung und Leistung auch das soziale Umfeld sowie die Bildungsnähe der Eltern?

Für viele Familien wird die vierte Klasse Volksschule mitunter zur leistungsintensiven Bewährungsprobe, denn für die Aufnahme ins Gymnasium müssen die Noten passen. Voraussetzung für den Besuch der AHS ist, dass in Deutsch, Lesen und Mathematik im Zeugnis zumindest ein Zweier steht und alle anderen Pflichtgegenstände positiv abgeschlossen werden.

Frühe Gabelung – Leistungsdruck von allen Seiten

Österreich hat mit der Trennung der SchülerInnen nach der vierten Schulstufe ebenso wie Deutschland als eines der wenigen EU-Länder (neben den Niederlanden und Luxemburg) ein so genanntes differenziertes Schulsystem. Ein System, in dem Zehnjährige (bzw. ihre Eltern) wissen müssen, welche Schulform für die nächsten vier Jahre geeignet ist. Ein System, über das der deutsche Soziologe Heinz Bude schreibt, es sortiere viel zu früh. In seinem Buch „Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet“ erklärt Bude, dass man „immer noch glaubt, dass beim Übergang zur fünften Klasse festgestellt werden kann, welches Kind auf die Universität gehört“ und „welches sich auf eine Facharbeiterexistenz vorbereiten soll.“ Zukunftsängste der Eltern und die Sorge, dass „aus dem Kind nichts wird, wenn es nicht ins Gymnasium kommt“, seien laut Schul- und Familientherapeuten tatsächlich oft schon bei den Kleinsten ein Thema. „Spätestens sobald in der vierten die Schularbeiten anstehen, wird das Thema Schule für viele Familien zum richtigen Stressfaktor“, weiß Familienberaterin Ines Berger. „Da wird plötzlich von allen Seiten Druck ausgeübt: Eltern auf Kinder, Lehrer auf Schüler, Eltern auf Lehrer, Lehrer auf Kinder – und letztendlich machen sich die Schüler auch selbst Druck.“

Soziale Auslese & Sorge um das soziale Umfeld

Neben dem erhöhten Stresslevel der Viertklässler rund um die AHS-Anmeldung hat die frühe schulische Auslese auch soziale Nebenwirkungen. Tatsache ist: Hauptgrund für die Wahl der vermeintlich „besseren“ AHS ist für viele Eltern oft gar nicht so sehr der Lerninhalt oder die mit dem Gymnasium verbundenen, möglichen besseren Berufsaussichten. Häufig sei es vielmehr die Sorge um das soziale Umfeld, das Eltern dazu antreibe, ihr Kinder – mitunter auf Biegen und Brechen – auf die AHS zu bringen. Und zwar speziell in Städten und Ballungszentren. Nicht umsonst ist der Anteil an der Neuen Mittelschule lediglich in den Bundesländern oft doppelt so hoch als der an den AHS – in Wien etwa halbe halbe. Bildungssoziologische Studien belegen, dass die frühe Aufteilung auf unterschiedliche Schulformen bereits mit zehn Jahren eine starke soziale Auslese zur Folge habe. Die Österreichische Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen (ÖFEB) kommt etwa zum Schluss, dass mehrgliedrige Schulsysteme wie in Österreich und Deutschland weniger effektiv und sozial ungerechter seien. Je länger nämlich Kinder und Jugendliche eine gemeinsame Schule besuchen würden, desto weniger sei ihr Bildungserfolg von der Herkunftsfamilie abhängig. Die frühe Trennung forciere vor allem bei Eltern aus dem Bildungsmilieu den Push-Effekt in Richtung Gymnasium. Nicht selten ohne Rücksicht auf Talente und Bedürfnisse der Kinder.

Passt das Gymnasium überhaupt zu meinem Kind?

„Eltern meinen oft sehr genau zu wissen, was das Beste für ihr Kind ist und vergessen aber darauf, die Kinder einzubeziehen!“, sagt Ines Berger. Die von Vätern und vor allem von Müttern vielfach getätigte Aussage „WIR haben Schularbeit“ steht symptomatisch für diesen schulischen Druck, unter dem gerade gut gebildete Eltern, die eine enge und gute Beziehung zu ihren Kindern haben, oft stehen. Im Vergleich zu früher stehen weniger Strafen oder Beschimpfungen an der Tagesordnung. Dafür fiebern Eltern heutzutage mit den Kindern mit, leiden unter Misserfolgen und geben ihrem Kind damit unbewusst das Gefühl, dass ihr Elternglück von seinen Leistungen abhängt. Beim Übertritt in die AHS kreist oft alles um die Frage: „Wird mein Kind das Gymnasium schaffen?“ Dabei sei eine andere Frage laut Pädagogen und Schulcoaches viel wesentlicher. Nämlich jene, ob das Gymnasium überhaupt zum Kind passt. Immer wieder sei von Eltern auch der Satz zu hören: „Du musst die Matura machen. Danach stehen dir alle Wege offen!“ Dahinter stehe klar der Wunsch, dem Kind eine erfolgreiche, berufliche Zukunft zu ermöglichen. Doch auch hier gälte es darüber nachzudenken, inwiefern dieser Satz überhaupt stimmt.

Arbeitspensum & Gefühle der Kinder beachten

In der AHS angekommen lernen manche Kinder einfach gerne und viel. Sie möchten alles genau wissen, sind interessiert und freuen sich über gute Noten. So lange es dem Kind dabei gut geht, sei laut Experten alles im grünen Bereich. Problematisch werde es, wenn das Kind ständig das Gefühl hat, um seinen Platz kämpfen zu müssen und sich trotz großer Anstrengungen und viel Hilfe nur knapp im Gymnasium halten kann. Oftmals machen Kinder, die es in die AHS schaffen die Erfahrung, nun vorwiegend von leistungsstarken und fleißigen Klassenkameraden umgeben zu sein. Sie bekommen also tagtäglich vor Augen geführt, dass sie nicht (mehr) so leicht mithalten können. „Ohne Rücksicht auf das individuelle Leistungspotential der Kinder kann der Druck ins Unermessliche steigen“, so Ines Berger. Mit möglichen weitreichenden, unangenehmen Folgen: Prüfungsangst, Schulunlust, fehlende Motivation oder Erleben von Minderwertigkeit.

Geht es darum, das Kind auf Biegen und Brechen an der Schule zu halten, kann das Arbeitspensum vieler Gymnasiasten oft auch jenem von Top-Managern gleichen: Lernen bis spät in den Abend hinein, an den Wochenenden mit den Eltern über Bücher brüten und in den Ferien Verpasstes nachholen. Nicht selten ist die Überforderung Dauerzustand, das Gymnasium den Eltern so wichtig, dass die Bedürfnisse der gesamten Familie auf der Strecke bleiben. In solchen Fällen halten Experten eine AHS für die „falsche Schule“, die die Chancen vieler Jugendlicher tatsächlich verbauen. Gerade leistungsschwächere Kinder würden laut einer aktuellen Studie der Humboldt-Universität Berlin davon profitieren, wenn sie in eine Schulform wechseln, die ihren Fähigkeiten besser entspricht. Weil mitunter andere Talente vorhanden sind, auf die das Gymnasium weniger Wert legt. Weil die Kids vielleicht künstlerisch begabt sind, gute Verkäufer oder Handwerker wären. Kein Wunder, dass nach der Matura viele oft keine Ahnung haben, was sie gerne tun, gut können und wo sie hin möchten – Stichwort Langzeitstudierende. Deshalb müssten Eltern laut Stefanie Rietzler von der Züricher Akademie für Lerncoaching beim Übertritt ins Gymnasium unbedingt zwei Faktoren im Auge behalten: „Das Arbeitspensum des Kindes und die Gefühle, die es während des Lernens empfindet!“ Denn gerade weil Eltern ihrem Kind ein gutes Leben ermöglichen wollen, dürfen sie nicht vergessen, was das in erster Linie bedeutet: Eine Kindheit und Jugend, auf die die Kids später gerne zurück blicken.

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close