Bildung

Tempo, Tempo!

Kleine Träumer sind zwar kreativ und fantasievoll, aber oft vom Alltag überfordert. In der Schule kann das leider schnell zum Problem werden. Wie wir Kinder dabei unterstützen, mit dem Tempo der anderen mitzuhalten und welche Rolle unser Gehirn beim Konzentrieren einnimmt.

„Trödle doch nicht so!“ oder „Lass dich doch nicht die ganze Zeit ablenken!“ oder „Tu weiter und mach das jetzt endlich fertig!“ So manchen Eltern kommen Sätze wie diese wahrscheinlich bekannt vor. Sie sind dann zu hören, wenn Kinder zum Tagträumen neigen, ein langsames Arbeitstempo haben, sich leicht ablenken lassen, vergesslich oder unpünktlich sind. Wenn Eltern bei den Hausübungen neben ihren Kindern sitzen müssen, sie ständig ermahnen, doch endlich weiter zu machen, um die Sache zu Ende zu bringen. Während das Kind keinen Strich weiter macht, lieber mit den Buntstiften spielt, noch mal am Klo unnötig Zeit verplempert oder vollkommen aus den Wolken gegriffene Themen anspricht, anstatt gedanklich bei den Aufgaben zu bleiben.

 

Unterschiedliche Entwicklungsstufen

 

Sich ständig zu konzentrieren, zuzuhören, selbstständig und zügig zu arbeiten – die Anforderungen an Schulkinder sind mitunter hoch und manche Kinder haben so ihre Mühe damit, das erwartete Pensum in der erforderlichen Zeit zu erfüllen. Der Druck in der Familie steigt spätestens dann, wenn Lehrpersonen daran erinnern, dass das Kind dieses und jenes nun einfach können müsste. Schließlich ist es nachvollziehbar, dass Lehrerinnen und Lehrer Sorge haben, den Lehrplan einzuhalten, wenn sie mitansehen müssen, wie verträumte Kinder im Unterricht permanent aus dem Fenster schauen oder mit den Arbeitsblättern gerade einmal dann beginnen, wenn die anderen fast fertig sind. Kein Wunder, dass Eltern sich davor fürchten, dass das Kind sein Potential nicht ausschöpft und schlichtweg „auf der Strecke bleibt“,  währenddessen Mitschülerinnen und Mitschüler scheinbar alles problemlos auf die Reihe kriegen. Dabei könnte alles viel leichter sein, wenn das Kind seinen Kopf einfach mehr bei der Sache haben könnte. Wäre da nicht unser Gehirn und die Tatsache, dass dieses bei Menschen schlichtweg unterschiedlich schnell reift. Mit der Folge, dass bei manchen Kindern auch die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren, später oder weniger gut ausgebildet wird.

 

Wie funktioniert eigentlich Konzentration?

 

Die moderne Hirnforschung geht davon aus, dass unser Gehirn – vereinfacht gesagt – neben dem Standardmodus, in dem es bestimmten Aufgaben nachgeht, auch eine Art Default Mode besitzt. Also ein Ruhezustandsnetzwerk, bei dem eine Gruppe von Hirnregionen aktiviert wird, sobald der Mensch ruht und keinerlei Aufgaben nachgeht. Studien haben herausgefunden, dass dieses Ruhenetzwerk auch dann aktiviert wird, wenn wir beispielsweise tagträumen, Zukunftspläne schmieden, über uns und unser Leben nachdenken oder Kunst betrachten – also immer dann, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen, anstatt unseren Geist auf eine bestimmte Tätigkeit zu fokussieren. Wollen wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren, muss das Gehirn die Aktivität im Ruhenetzwerk unterdrücken. Gleichzeitig wird dabei die Tätigkeit eines anderen Netzwerkes erhöht, das unter dem Begriff „exekutive Kontrolle“ zusammengefasst wird. Diese ist unser Hilfswerk, wenn es darum geht, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, zwischen Aufgaben bewusst hin- und herzuwechseln, zu organisieren  und zu planen, uns flexibel auf Unvorhergesehenes einzustellen und das eigene Arbeitsverhalten zu überwachen. Je mehr wir uns auf eine Aufgabe konzentrieren müssen, desto mehr muss das Gehirn das Ruhenetzwerk hemmen und besagte exekutive Kontrolle hochfahren. Genau diese Fähigkeit unseres Gehirns entwickelt sich im Laufe der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hinein. Und zwar so, dass das Gehirn bei manchen Kindern langsamer und die Feinabstimmung zwischen exekutiver Kontrolle und Ruhenetzwerk sich später oder teilweise weniger gut ausbildet. Wovon das abhängt? Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass das von einem komplexen Zusammenspiel zwischen Genen, Einflüssen während Schwangerschaft und Geburt sowie Umgebungsfaktoren zusammenhängt.

 

Zeiträume für Erholung und Fantasie

 

So aufschlussreich besagte Erkenntnisse sein mögen – all jenen Kindern, denen es eben nicht so früh gelingt, sich länger bewusst zu fokussieren und Ablenkungen auszublenden, ist mit dem Wissen der Neurowissenschaft allein noch nicht geholfen. Es stellt sich also die Frage, wie diese Kinder unterstützt werden können, damit sie ihr Arbeitstempo steigern und in der Schule mit den anderen mithalten können. Wie wir also mit jenen Kindern umgehen, die paradoxerweise genau das bestens praktizieren, was so genannte Entschleunigungstrainer ihren gestressten Klienten in einer immer schneller werdenden Welt nahe legen: nämlich Langsamkeit. „Damit verträumte Kinder langfristig gesund, zufrieden und leistungsbereit sein können, müssen sie selbst und ihr Umfeld herausfinden, wo ihre Grenzen liegen, welche Situationen und Tätigkeiten das Kind besonders beanspruchen und wo es Energie tanken kann“, weiß Psychologin und Lerncoach Stefanie Rützler. Besonders ermüdend ist für diese Kinder erwiesenermaßen alles, was die „exekutive Kontrolle“ stark beansprucht. „Verträumte Kinder empfinden es als besonders anstrengend, wenn viel Neues auf sie einströmt, es laut und hektisch zugeht“, erklärt Rützler. Umso mehr sollten Eltern darauf achten, dass Ihr Kind nicht zu vielen Reizen ausgeliefert ist, die es überfordern. Kinder, die Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit haben und leichter ermüden, bräuchten demnach umso mehr Phasen der Erholung. Finger weg also vor zu viel strukturiertem Nachmittagsprogramm wie außerschulischen Kursen oder Vereinen. „Die Gedanken schweifen lassen, dem eigenen Rhythmus folgen, kreativ werden und eigene Ideen verwirklichen, frei spielen – für all das sollten alle Kinder heute wieder mehr Zeit haben“, behauptet Stefanie Rützler. Nicht umsonst ist bei verträumten Kindern in der Regel die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, besonders stark ausgeprägt, weshalb ihnen auch selten langweilig ist. Nach der Schule sollen sich diese Kinder laut Rützler einfach nur „erholen“, um runter zu kommen – ganz ohne Termine oder vorgegebenem Programm. Eltern müssten also Zeiträume schaffen, in denen die Kinder sich zurückziehen und ihren Tagträumen nachhängen können. Manche Kinder würden sich dann am liebsten stundenlang alleine mit ihren Kuscheltieren, Actionhelden oder Legobausteinen beschäftigen. Andere würden in Ruhe etwas basteln und dabei ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Wieder andere würden es lieben, sich fantasievoll zu verkleiden. „Wenn sie ihren Interessen in ihrem Tempo nachgehen dürfen, wirken sie manchmal wie in Trance, so versunken und konzentriert, dass sie kaum davon loszureißen sind“, berichtet Lerncoach Rützler.

 

Los, mach schon!

 

Fühlen sich verträumte Kinder von außen unter Druck gesetzt, werden sie laut Erfahrungen der Experten noch langsamer. Viele würden sich noch mehr in ihre Innenwelt zurückziehen, andere würden aber auch ausrasten. Eltern würden dabei immer wieder auf die Probe gestellt, indem sie einerseits den Anforderungen der Schule gerecht werden wollen, das erforderliche Programm durchzuackern, andererseits müsse Familie jener Ort sein, wo die Kinder auftanken und durchatmen können. Laut Rützler idealerweise mit Eltern, die ihnen den Rücken stärken und spüren, wie es dem Kind jeweils dabei geht, die gesteckten Ziele zu erreichen. Nicht umsonst sollte auch in Schulen darauf geachtet werden, dass Kinder mit Konzentrationsdefiziten langsam und schrittweise an eine selbstorganisierte Arbeitsweise herangeführt werden. „Verträumte Kinder werden im Idealfall eng begleitet, auch bei den Hausaufgaben wird darauf geachtet, dass die Kinder mit dem Umfang und dem Schwierigkeitsgrad nicht überfordert werden“, so Rützler. Was aber, wenn die Schule diesbezüglich wenig Entgegenkommen zeigt? Hierbei müssten die Eltern laut Experten umso mehr immer wieder eine Pufferfunktion übernehmen. Stefanie Rützler formuliert es so: „Eltern sollten sich überlegen, was vom Kind verlangt wird, welche Forderungen im Raum stehen, was das Kind momentan tatsächlich leisten kann und wo es ihm zuviel wird. Welche Form der Unterstützung hilfreich ist und welche nicht. Und vor allem: Wo muss das Kind vor Überforderung geschützt und mit der Außenwelt entsprechend verhandelt werden?“ Dabei müssten Eltern allen voran die Besonderheiten des Kindes annehmen und akzeptieren, dass sie das Kind nicht ändern können. „Dies erfordert viel Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Kindes“, so Rützler. „Der elterliche Blick sollte sich vorallem auf die Stärken des Kindes richten und die Langsamkeit sollte auch als Qualität wahrgenommen werden“. Denn die gute Nachricht für alle betroffenen Eltern lautet: Aus verträumten, langsameren Kindern müssen nicht erst andere Menschen werden, damit sie im Leben Erfolg haben. Aus der Forschung weiß man: Viele verträumte und langsame Kinder sind besonders kreativ, haben eine reiche Innenwelt und viel Fantasie, sind feinfühlig und in der Lage, Lösungen auf Fragen zu finden, bei denen man mit geradlinigem Denken nicht weiterkommt. Gut möglich, dass diese Menschen ihr ganzes Leben lang meist etwas chaotisch, langsam oder zerstreut sind. Dass sie zu wenig planen, manches vergessen oder nicht vorausdenken. Und trotzdem können sie zufriedene, glückliche Erwachsene sein. „Dazu müssen sie sich nicht grundlegend verändern, sondern sich selbst kennen und annehmen können. Sie müssen wissen, wo ihre Stärken liegen und diese kultivieren und ausbauen“, sagt Stefanie Rützler. Umso mehr sollten Eltern diese Kinder gerade in der Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen eng begleiten, damit die Kids leichter Wege finden, um mit diesen umzugehen.

 

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