Bildung

Höher, besser, schneller

Kinder im Wettbewerb: Inwiefern sollen wir unsere Kinder die Prinzipien von Konkurrenz und Leistungsorientierung spüren lassen – wann schützen, wann fördern?

Der Sechsjährige tritt kräftig in die Pedale und rast voraus. Überholchance für die gleichaltrigen Fahrradkumpels – gleich null. Das gilt auch für die hinterherhechelnde Mama und das sich auf dem Laufrad abstrampelnde Geschwisterchen. Während der flotte Radler am anderen Ende des Parks triumphiert, brüllen die Verlierer ihre Enttäuschung aus der Seele.

GEWINNER. Spaß am Können, statt um je den Preis gewinnen.

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Leistung, Leistung, Leistung

Erfolg und Niederlage sind zwei wichtige Pole im menschlichen Dasein. Wir leben bekanntermaßen in einer Leistungsgesellschaft mit starkem Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken. Die Sorge vieler Menschen, dabei den Kürzeren zu ziehen, macht freilich auch vor Familien mit Kindern nicht Halt. Nicht umsonst werden etwa prompt nach der Geburt Länge und Geburtsgewicht auf Zentimeter und Gramm genau in die sozialen Kanäle hinausposaunt. Oder es wird ununterbrochen verglichen, um dann erleichtert abzuhaken, dass das eigene Kind eh auch schon krabbeln, sitzen, essen, stehen, laufen oder sprechen kann. Während man in den Spielgruppen und Kindergärten auf die individuelle, kindliche Entfaltung noch recht bemüht ist, scheint spätestens mit der Schule und der damit einhergehenden systematischen Sortierung in Gewinner und Verlierer mehr und mehr Ellbogentechnik gefragt zu sein. Und so kommen Kinder schon recht früh mit den Prinzipien von Wettbewerb aus der Erwachsenenwelt in Berührung. Was also nun tun: schützen oder fördern? Kinder schon im Kleinkindalter darauf trimmen, sich gegen andere zu behaupten oder die zauberhafte Unbeschwertheit so lange wie möglich bewahren?

ERSTER. Jedes Kind ist anders. Der eine kann das früher, der andere jenes.

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Alle zusammen oder einer gegen alle

Aus der Biologie wissen wir, dass Menschen von Natur aus nach Zielen streben und sich zu Höchstleistungen anspornen. Ob sie das auf kooperative Weise machen oder im Wettbewerb, darüber sagen unsere Gene nichts aus. Aber wir wissen aus kulturübergreifenden Beobachtungen, dass Menschen von Natur aus gerne wetteifern und sich untereinander vergleichen. „Indem wir uns mit anderen messen, schaffen wir ein wichtiges Referenzsystem für die Gruppe als Ganzes, weil wir so einordnen können, wer etwas besonders gut kann. Dem entsprechend welchseln Kinder im freien Spiel meist fließend zwischen kompetitiven und kooperativen Situationen“, sagt Autor und Wissenschaftler Herbert Renz-Polster. Kinder profitieren also sowohl von Konkurrenz als auch von Kooperation. Wobei Renz-Polster betont, dass Kinder nicht aus dem Scheitern heraus lernen, sondern grundsätzlich „am Gewinnen wachsen.“ Gelegenheiten, in denen Kinder erfahren, wie Wettbewerb funktioniert, gibt es viele. Mit den ersten Gesellschafts- oder Rollenspielen zum Beispiel. Im Musikverein oder bei sportlichen Wettkämpfen. „Kinder gehen in der Regel mit Verlierern kompetenter um, als es Erwachsene oft tun“, so Renz-Polster. Komplizierter kann die Sache allerdings dann werden, wenn Kinder sich vermehrt in künstlichen Spielwelten bewegen bzw. vorrangig in vorgegebene Rollen schlüpfen. Beispielsweise bei Spielen, die gar nicht vorsehen, dass jeder einmal den Bösen, Guten, Papa, Mama oder Chef spielen kann, sondern wo alle nur Held sein wollen. Nicht jedes Spiel impliziert also flexible Wettbwerbssituationen. Und Eltern tun mitunter gut daran, sich – sicher situationsbedingt – bewusst für oder gegen das „Gewinner-Verlierer“- Prinzip zu entscheiden. Wählt man etwa den Klassiker „Obstgarten“, bei dem alle Mitspieler gemeinsam gegen den Raben spielen? Oder lieber „Tempo, kleine Schnecke“, bei dem es darum geht, welcher Spieler als erster mit seiner Schnecke ans Ziel gelangt? Oder zum Beispiel bei Kinderfeiern: Bekommt nur der einen Preis, der bei Sackhüpfen oder Schatzsuche der Beste ist oder kriegen alle Kinder etwas, einfach deshalb, weil sie dabei sind? Und dann ist da noch die, besonders bei Eltern von Geschwisterkindern beliebte, Antriebsmethode: Wer ist Erster? Vordergründig betrachtet mag es hilfreich sein, Kinder dazu zu bringen, sich möglichst schnell für Kindergarten und Schule fertig zu machen. Doch genau genommen setzt sich hier nicht nur der Schnellere, sondern auch der Konkurrenzgedanke durch.

SCHNELLSTER. Leisten, was man kann und nicht, was erwartet wird.

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Gesunder Wettbewerb – pro & contra

Zum pädagogischen Umgang mit Wettbewerben gibt es seit Jahren geteilte Meinungen. Für manche Experten schade der Wettbewerb dem Selbstwertgefühl und führe zu Missgunst. Der US-Schriftsteller und Erziehungsexperte Alfie Kohn etwa schreibt  in seinem Buch „No Contest: The Case against Competition“, dass das Selbstbewusstsein eines Kindes niemals davon abhängen sollte, ob es „irgendeine Battle“ gewinnt. Auch so etwas wie einen „gesunden“ Wettbewerb lehnt Kohn ab. „In einer Wettbewerbskultur wird einem Kind vermittelt, dass es nicht genügt, gut zu sein. Es muss andere besiegen. Wettbewerbsorientierte Personen besitzen kein bedingungsloses Selbstwertgefühl und sind übermäßig davon abhängig, wie gut sie bestimmte Dinge gemacht haben und was andere über sie denken“, behauptet Kohn. Wettbewerb bringen Kinder demnach dazu, Gewinner zu beneiden und Verlierer abzulehnen. Dem gegenüber postuliert Kohn die positiven Effekte der Kooperation. „Durch die Zusammenarbeit lernen Kinder, effizient zu kommunizieren, anderen zu vertrauen und auch jene zu akzeptieren, die anders sind als sie“. Andere Experten sprechen sich hingegen sehr wohl für einen „gesunden“ Wettbewerb aus. Nämlich eine Art ungezwungenen Wetteifer, der Kinder dazu beflügle, ihr Bestes zu geben und nicht nur gut genug zu sein, um in der heutigen, wettbewerbsorientierten Gesellschaft zu bestehen. So behauptet etwa die Bildungstheoretikerin Jennifer Veale, dass Schüler, die im Wettbewerb stehen, eigenständig nach Lösungen suchen und sich vermehrt darum bemühen würden, mehr zu leisten, als verlangt wird.

BESTER. Nicht jeder kann der Beste sein. Verlieren ist „part of the game“.

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Gewinnen – um welchen Preis?

Was aber, wenn erwartet wird, dass Kinder mehr leisten, als sie können? „Leider führt die weit verbreitete, für viele Wettbewerbssituationen typische Einstellung, um jeden Preis gewinnen zu müssen dazu, dass die Motivation der Kinder darunter leidet und sie Aktivitäten meiden oder ganz aufgeben, die ihnen sonst Spaß machen würden“, weiß der Sportpsychologe John Tauer. Gerade bei motorischen Fertigkeiten scheinen Kinder einen natürlichen Drang zu besitzen, sich in Kraft und Geschicklichkeit mit anderen zu messen. Dabei komme es stark darauf an, ob der Spaß an der Sache die Kinder antreibt oder der Gedanke, besser als die anderen zu sein. Statt übertriebenem Ehrgeiz könnten Eltern ihren Kindern wertschätzende Anerkennungserfahrungen schenken. Indem sie etwa akzeptieren, dass der eine dies und der andere eben das gut kann. Weiters indem die kindliche Freude am Können wieder mehr geschätzt und sorgfältig darauf geachtet wird, was zumutbar ist und dass besondere Begabungen stets entwicklungsgerecht unterstützt werden sollten. Weniger ratsam sei es übrigens, Kinder absichtlich gewinnen zu lassen, bloß um Wutanfälle angesichts der Niederlage zu vermeiden. Besser sei es, sich etwas zurückzunehmen und Kindern so zu helfen, dass sie im Spiel zwar Vorteile erlangen, aber den Hauptanteil trotzdem selbst leisten müssen. Weil nicht jeder der Erste oder Beste sein kann, will gerade auch die Überwindung von Frust durchs Verlieren gelernt sein. Je weniger Kinder sich mit dem Gedanken daran belasten müssen, dass sie etwas nicht schaffen könnten oder jemand anderer „besser“ sein könnte, umso freier und unbelasteter machen sie ihre eigenen Erfahrungen. Denn letztendlich ist auch das Leben nicht ein einziger Höhenflug. Talfahrten, Rückschläge und die Überwindung von Niederlagen gehören dazu. Und mit einem respektvollen Umgang miteinander wird aus dem Gegner ein würdevolles Gegenüber.

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