Bildung

Krank ist krank. Oder doch nicht?

Selbst im Krankenbett heißt es für viele Schülerinnen oft büffeln und pauken. Das kranke Kind daheim soll ja möglichst keinen Unterrichtsstoff verpassen! Kränkelt angesichts dieses Drucks vielleicht nicht nur das Kind?

Der Wecker läutet. Statt dass aufgestanden wird, hüstelt und keucht es unter der Bettdecke. Oh nein! Mein Kind ist krank. Derjenige, der den Nachwuchs gesund pflegt, bleibt der Arbeit fern, erntet lästige Anrufe aus der Firma. Augenrollen bei den Vorgesetzten sowieso. Das erkrankte Kind selbst ist in der Regel leidlich. Es fiebert oder braucht ständig irgendeine Zuwendung, Medizin hier, Schonkost da. Nein, daheim mit krankem Kind – das wissen alle Eltern – ist kein lustiger Zeitvertreib. Mit einem schulpflichtigen Kind schon gar nicht. Denn neben der Sorge um die Gesundheit des Sprösslings plagt viele auch die Angst davor, dass die Schule Stress macht. Es ist zwar nicht so, dass alle Schulen verlangen, dass keine Minute des Unterrichts verpasst wird. Dennoch ist es Gang und Gebe, dass schon am ersten Krankheitstag ein Stapel Arbeitsblätter in der Aula zum Abholen bereit liegt oder Lern-Files im Laufe des Vormittages im Posteingang eintrudeln. Manche werten es als entgegenkommendes Angebot der Schule, dem Kind den Unterrichtsstoff nicht vorzuenthalten. Für andere ist es ein eindeutiges Signal: So krank kannst du gar nicht sein, um nichts für die Schule zu machen! Im Zweifelsfall gilt: Lieber nix versäumen.

Kranksein als gesellschaftliches Tabu
Auch in früheren Generationen haben Krankheiten Schülerinnen oft tageweise aus ans Krankenbett gefesselt. Natürlich war es für die fürsorglichen Mütter (auch heutzutage sind es in aller Regel die Mütter, die bei den kranken Kindern daheim bleiben) auch damals alles andere als spaßig, die Kinder gesund zu pflegen. Nichtsdestotrotz werden so manche aus der heutigen Elterngeneration das Krank sein in der eigenen Kindheit mitunter als recht gemütliche Angelegenheit in Erinnerung haben: Picksüße Medizin, Salzstangerl, Cola, kühlende Fieber-Wickel und – war man mit den Märchenkassetten durch – wartete schon das Kindernachmittagsprogramm im Öffentlichrechtlichen. Auch als das Nachbarskind nach ein paar Tagen Mitschriften vorbei gebracht hat, war von Schuldruck meist nichts zu spüren. Kranke Kinder heutzutage hören hingegen ihre Eltern oft ständig fragen: „Und, kannst du schon aufstehen und Schreibübung machen?“ Oder: „Wenn dir grad nicht schlecht ist, könntest du ja Mathe lernen!“. Und hat das Kind vor zwei Stunden noch gefiebert, haben Eltern oft insgeheim nichts als die stille Hoffnung, dass das Kind am nächsten Tag wieder in die Schule kann, damit Lernen & Co wieder ihren gewohnten Lauf nehmen. Was sagt es über unsere gegenwärtige Gesellschaft aus, wenn es vom Erbrechen oder Fieber schwächelnde Kinder nicht selten zum Schreibtisch zwingt, um möglichst alles für die Schule abzuarbeiten? Wenn der Eindruck entsteht, dass Leistung mehr Wert ist als Selbstfürsorge. Kranksein gar ein schlechtes Gewissen macht oder als Fehler im System empfunden wird.

Regeneration ist wichtig – wie Kinder überhaupt lernen
Krank ist krank. Sagt der Instinkt. Die Schule kann warten. Doch tut sie das wirklich? Und wie sehr halten wir aus, dass das Kind womöglich mit Nachteilen konfrontiert ist? „Die Angst davor, dass jemand „hinten bleibt“ gibt es auf Seiten der Schule und auf Seiten der Eltern. Das hat sehr viel mit unserer vom Leistungsdruck und auch von Bildungspanik getriebenen Gesellschaft zu tun“, sagt Hanna Pessl. Für die Entwicklungspädagogin und ehemalige Lehrerin stellt sich die Frage, welche Botschaft wir Kindern schon in jungen Jahren geben, wenn nicht einmal Kinder eine Auszeit von Leistung bekommen. „Erholungsphasen sind für uns alle so wichtig! Egal ob als Lehrkraft oder als Elternteil – wir müssen Verantwortung übernehmen, uns klar hinter die Kinder stellen und diesem Druck, immer verfügbar zu sein, stand halten“, betont Pessl. Das bedeute in erster Linie Rücksicht darauf zu nehmen, wie Gehirne von Kindern grundsätzlich lernen. Nämlich mit Begeisterung und Freude und keinesfalls linear. „Gehirne brauchen zum Lernen Anspannung UND Entspannung. Nur aus der Regeneration heraus entsteht wieder die Lust auf Neues. In der Anspannung sind wir blockiert und können nicht nachhaltig lernen“, weiß die Entwicklungspädagogin. Dieses Wissen könne Eltern helfen, die Interessen der Kinder leichter im Auge zu behalten, um nicht aus der eigenen Stressreaktion heraus mit einem falsch verstandenen Pflichtbewusstsein von den Kindern etwas zu verlangen, was sie nicht leisten können. Schulen wiederum täten laut Pessl gut daran, ebenso wachsam zu sein für die Lern-Mechanismen kindlicher Gehirne. „Wie wäre es, wenn der Unterricht es mehr zulassen würde, dass alle Kinder ein anderes Tempo haben anstatt alle im Gleichschritt durchzuboxen. Es gibt so viele Methoden des offenen Lernen und nicht des sinnlosen Wissens-Reinstopfens“, weiß Pessl. Ein erster Schritt dazu wäre: Der Intelligenz des Lebens in unseren Kindern mehr zuzutrauen. Nämlich dass sie aus sich heraus wachsen und lernen. Dann könnten wir uns alle mehr entspannen – und auch in Ruhe krank sein.

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