Gesundheit

Wenn Fettzellen rebellieren

Tamara, 15, leidet am Lipödem, einem genetisch bedingten, unkontrollierten Wachstum von Fettzellen in Beinen und Armen. Jahrelang blieb die Krankheit unerkannt und sie wurde deswegen gemobbt. Jetzt hofft sie auf eine Therapie.

Es waren vier schlimme Jahre für Tamara. In der Schule wurde die 15-jährige Niederösterreicherin als „Dickerl“ gemobbt und im Turnunterricht wegen ihres Aussehens verspottet. Selbst die Familie bot anfangs wenig Trost. „Meine Schwester hat mir gesagt, ich soll halt weniger essen. Das hat mich psychisch ziemlich runtergezogen“, erinnert sie sich an die erste Zeit ihrer Krankheit.

Tamara leidet am Lipödem, einer genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung, bei der die subcutanen Fettzellen rebellieren und sich vor allem in Beinen und Armen extrem vermehren. 20 Kilogramm hat sie seit Ausbruch der Krankheit zugenommen, ohne dass sie mehr gegessen hätte. „Früher hat man das Phänomen als Reiterhosen oder weniger freundlich als Krautstampfer bezeichnet“, sagt Dermatologe Matthias Sandhofer, einer der wenigen Spezialisten für das Lipödem in Österreich. Rund fünf Prozent aller Mädchen und Frauen leiden darunter.

Eine „unbekannte“ Krankheit

Trotz der hohen Fallzahl ist die Krankheit selbst vielen Ärzten nicht geläufig. Sie beginnt mit der Pubertät und hat extreme Auswirkungen auf die Gesundheit und die Psyche der Betroffenen. Sandhofer: „Neben der optischen Beeinträchtigung durch die Disproportion von Körper und Extremitäten sind die betroffenen Körperstellen sehr druck- und schmerzempfindlich. Selbst das Reiben von Kleidungsstücken auf der Haut ist für die Patientinnen oft unerträglich.“ Das kann Tamara nur bestätigen. Sie hat oft so starke Druckschmerzen, dass sie mittlerweile nicht mehr am Turnunterricht teilnehmen kann. „Ich bin öfter weinend vor Schmerzen oder wegen des Mobbings durch die Mitschüler aus dem Turnsaal gelaufen“, erinnert sie sich an diese Zeit.

Vor Ausbruch der Krankheit war Tamara sehr sportlich. Doch Sportarten wie Laufen oder Radfahren kommen für sie nicht mehr in Frage. „Die Schmerzen sind einfach zu stark“, beschreibt sie ihren Zustand. Einzig Schwimmen sei schmerzfrei möglich, „aber im Badeanzug fühle ich mich überhaupt nicht wohl.“

 

„Es gibt derzeit noch keine medikamentöse Behandlung des Lipödems. Was Patientinnen bleibt, ist das Absaugen der Fettzellen.“

Assoc. Prof. Priv. Doz. Dr. Florian Kiefer
Facharzt für innere Medizin, Endokrinologie & Stoffwechsel
www.dr-kiefer.com

Psychisch sehr belastend

Neben den körperlichen Beschwerden führt das Lipödem bei vielen Frauen auch zu großen psychischen Problemen und oft in die soziale Isolation. Sandhofer: „Die Betroffenen zeigen sich kaum mehr in der Öffentlichkeit und vermeiden soziale Kontakte.“ Gleichzeitig versuchen sie, mit allen Mitteln Kilos zu verlieren und machen eine Diät nach der anderen, ohne dadurch aber an Gewicht zu verlieren. Auch Tamara ist durch diese Phase der Krankheit gegangen: „Ich habe wochenlang so gut wie nichts gegessen, aber auf der Waage hat sich nichts getan. Meine Beine sind unverändert dick geblieben. Ich war total verzweifelt und nur mehr am Weinen.“ Spätestens in dieser Phase war ihrer Familie klar, dass etwas mit Tamara nicht stimmt. Mutter Karin: „Sie hatte eine extrem schmale Taille, aber Po und Beine sind dick geblieben, so als würde ihr Körper aus zwei nicht zusammenhängenden Teilen bestehen.“

Was er mehr oder weniger auch tut, wie Florian Kiefer, Stoffwechselexperte am Wiener AKH, bestätigt: „In der Medizin nennt man das ‚Two Bodies in One‘. Der Oberkörper und die Beine passen in den Proportionen nicht mehr zusammen.“ Weder Diäten noch Sport können daran etwas ändern. Kiefer: „Eine gesunde Ernährung und körperliche Betätigung sind trotzdem wichtig, denn sehr oft kommt es bei Patientinnen mit Lipödem durch Bewegungsmangel zur klassischen Gewichtszunahme bis hin zur Adipositas.“

Vor vier Jahren traten die ersten Symptome auf.

Hormone als Auslöser

Über die Auslöser des Lipödems ist noch wenig bekannt. Klar scheint, dass der Beginn der Krankheit hormonell bedingt ist, weil sie in der Pubertät erstmals auftritt. Dazu kommt, dass sie höchstwahrscheinlich genetisch vererbt wird, denn meistens sind in einer Familie mehrere Generationen vom Lipödem betroffen. „In 80 Prozent der Fälle leiden Großmütter und Enkelkinder am Lipödem. Je näher sich die beiden Generationen genetisch sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit auch weitergegeben wird“, sagt Matthias Sandhofer, dessen Tochter ebenfalls am Lipödem leidet. Die genauen Zusammenhänge liegen aber mangels ausreichender Grundlagenforschung noch im Dunkeln.

Absaugen der Fettzellen

Die einzige derzeit bekannte und wirksame Behandlungsmethode des Lipödems ist das Absaugen der Fettzellen in den Beinen und Armen. Sandhofer: „Hier erzielen wir oft erstaunlich gute Ergebnisse. Nach zwei bis drei Sitzungen, die in einem Abstand von vier Wochen durchgeführt werden, können wir die überschüssigen Fettzellen weitestgehend beseitigen.“ Die Reduktion ist auch dauerhaft. Allerdings können weitere, starke hormonelle Veränderungen, etwa durch eine Schwangerschaft oder die Menopause, wieder Wachstumsschübe der subcutanen Fettzellen auslösen. Dann bleibt den Betroffenen nur das nochmalige Absaugen als Behandlungsmethode.

Ihre Eltern geben Tamara den nötigen Rückhalt, um mit der Erkrankung fertig zu werden.

Lebenslange Belastung

Ganz „geheilt“ sind die Patientinnen auch nach einer Absaugung nicht, denn sie müssen weiterhin mit einigen Einschränkungen im Leben zurecht kommen. Sie sollten möglichst keine Hormonpräparate einnehmen, also vor allem auf die Pille verzichten. Das Beibehalten einer bewussten Ernährung und von viel Bewegung ist ebenfalls entscheidend. Eine medikamentöse Behandlung gibt es derzeit noch nicht. Stoffwechselexperte Kiefer: „Wir stehen bei der Erforschung des Lipödems erst am Anfang. Die Situation ist ähnlich wie bei Adipositas vor 20 Jahren.“ Beide Experten sind sich einig, dass die Früherkennung des Lipödems wichtig ist. Doch gerade hier gibt es große Defizite, denn vielen Allgemeinmedizinern, aber auch Gynäkologen oder Internisten, fehlt das Fachwissen für eine exakte Diagnose. Bis zu fünf Jahre dauert es durchschnittlich, bis Betroffene die richtige Diagnose erhalten. Auch Tamara musste zahllose Arztbesuche hinter sich bringen. „Viele Ärzte haben einfach gesagt, ich soll nicht so viel essen. Das war echt frustrierend“, erinnert sie sich. Jetzt hofft sie, rasch einen Termin für die Fettzellabsaugung zu bekommen.

Inzwischen geht sie offensiver mit ihrer Erkrankung um: „In meiner Klasse wissen alle, was ich habe. Da hat sich die Situation inzwischen entspannt.“ Auf Instagram führt sie inzwischen ein Tagebuch, in dem sie offen über ihre Hochs und Tiefs berichtet (@lipoedem.tagebuch). Tamara abschließend: „Ich möchte anderen betroffenen Mädchen Mut machen. Es ist eine Krankheit für die niemand, der sie hat, etwas kann. Und es gibt Lösungen für dieses Problem.“ Für sie beginnt die Problemlösung übrigens am 1. April. Da hat sie ihren ersten Operationstermin.

 

Wann erste Anzeichen des Lipödems auftreten

61% in der Pubertät, 11-18 Jahre
37% im frühen Erwachsenenalter, 18-35 Jahre
2% im mittleren Erwachsenenalter, 35-65 Jahre

 

„Die psychische Belastung der Patientinnen ist beim Lipödem sehr hoch.“
Dr. Matthias Sandhofer, Dermatologe
www.sandhofer.at

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