Erziehung

Ich geh’ nicht mit Fremden mit! – Interview

„Die Fähigkeit, Befremdliches oder Gefahren „richtig“ einzuordnen, ist ein Lernprozess im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung!“

Sexualpädagogin Bettina Weidinger erklärt, was Prävention mit der eigenen Gefühlswahrnehmung zu tun hat, vor welchen Mustern wir warnen können und dass der Ernstfall jedoch niemals zu üben sei.

Wie sensibilisieren wir Kinder für befremdliche Situationen?
Bettina Weidinger: Primär durch Gefühlswahrnehmung. Diese lernen Kinder durch Sinneserlebnisse, etwa durch freie, spielerische Bewegung, aber vor allem auch dadurch, dass ihre Wahrnehmungen ernst genommen werden. Und dann gibt es ja auch noch Gesellschaftsregeln, die es stets notwendig machen, dem eigenen Gefühl nicht nachzugeben. Zum Beispiel wenn ein Kind sich für ein Geschenk bedanken soll, das ihm nicht gefällt. Dabei geht es darum zu vermitteln, dass Regeln etwas anderes sind als das Handeln auf Basis der eigenen Wahrnehmung.

Wie kann man das deutlich machen?
Indem wir Regeln als etwas Unemotionales vermitteln. Bleiben wir bei obigem Beispiel: Wird dem Kind erklärt, dass es sich für das Geschenk bedanken soll, weil die andere (!) Person sonst traurig ist, ist das emotionale Erpressung. Dem gegenüber stehen zwei Möglichkeiten: Man betrachtet diese Sache nur emotional, dann gibt es keinen Grund sich zu bedanken – immerhin hat das Geschenk nicht gepasst. Oder man sagt: Es gibt Höflichkeitsregeln, die wir einhalten wollen. Dann ist klar, dass es nur die Regel ist. Diese Unterscheidung ist deshalb so wichtig, weil Kinder sonst von klein auf lernen, etwas für andere zu tun, obwohl sie es nicht wollen und glauben, niemanden kränken zu dürfen. Noch schlimmer ist es, wenn sie glauben, nicht mehr geliebt zu werden, wenn sie den Forderungen anderer nicht nachkommen.
Hier wird deutlich: Das sind Fähigkeiten, die nicht in einem guten Gespräch gelernt werden können, sondern innerhalb eines Lernprozesses im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung zum Kind.

Was sind denn die Muster, vor denen wir präventiv warnen sollten?
Man kann natürlich sehr konkret davor warnen, niemals mit jemandem mitzugehen. Dabei macht es Sinn, zu erklären, dass Menschen oftmals recht lieb sind und etwas Schönes anbieten – ein gutes Eis oder Babyhäschen zum Ansehen. Auch muss klar sein, dass Erwachsene, die ein Kind um Hilfe bitten, etwas Falsches tun. Bei Hilfebedarf können Kinder etwa anbieten, die Rettung zu rufen, sollten aber niemals glauben, dass sie selbst als Kind Hilfe leisten müssen. Bei regelmäßigen Wegen können mögliche Gefahren wiederholt besprochen werden. Kinder brauchen Klarheit darüber, wer sie wo abholt, welcher Nachhauseweg geeignet ist und vor allem auch, was in außergewöhnlichen Situationen passend ist. Was zum Beispiel zu tun ist, wenn das Handy keinen Akku hat oder sich der Abholtermin verschiebt. Man kann auch Schutzzonen vereinbaren, wo man sich Hilfe holen kann. Das kann eine vertrauenswürdige Bäckerei sein oder der frühere Kindergarten. Auch müssen Kinder von klein auf lernen, dass gesellschaftliche Autoritätspersonen „nur“ Menschen sind, die auch gewissen Regeln folgen müssen. Ein Polizist etwa darf ein Kind nicht „mitnehmen“, auch dann nicht, wenn es etwas „angestellt“ hat. Werden manche Berufsgruppen ständig als unanfechtbare Autoritäten präsentiert, dann haben GewalttäterInnen, die sich als PolizistInnen oder PriesterInnen präsentieren – oder es auch wirklich sind – leichte Hand.

Wie sollen Kinder sich verhalten, wenn sie in der Menge verloren gehen?
Die Grundregel lautet: Möglichst öffentliche Einrichtungen nutzen und nicht eine einzelne erwachsene Person ansprechen. Als Ansprechperson im Ernstfall eignen sich zum Beispiel andere Eltern mit Kindern.

Was halten Sie von Codewörtern für den Notfall oder überhaupt vom Üben von Ernstfallsituationen?
Der Ernstfall einer Gewalttat kann nicht geübt werden. Niemand weiß, wie man sich in einer schwierigen Situation verhält. Es ist absolut falsch, Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie etwas „können“ müssen, um sich zur Wehr zu setzen. Das vermittelt ausschließlich Druck. Mit dem „Üben“ bekämpfen Eltern im Grunde ihre eigene Angst um das Kind. Hier gilt es sehr klar zu unterscheiden, ob das, was man seinen Kindern sagt und vorlebt auch wirklich nützlich für das Kind ist, oder man möglicherweise nur sich selbst beruhigen will.

 

Bettina Weidinger
Pädagogische Leitung Österreichisches Institut für Sexualpädagogik
www.sexualpaedagogik.at

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